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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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schön, zwei Drittel der Befragten stilisieren sie gar zu Helden des Widerstands oder zu Opfern des NS -Regimes.
    Was der eigene Großvater wirklich getan hat – viele wissen es nicht. Der Holocaust ist für sie ein Stück Schulunterricht, ritualisierte Opferstory in Film und Fernsehen – aber nicht die Geschichte ihrer eigenen Familie, ihre eigene Geschichte. So viele harmlose Opas, so viele verdrängte Familiengeheimnisse. Und wenn bald die letzten Zeitzeugen tot sind, wird es für die Enkel endgültig zu spät sein, genau nachzufragen.
    *
    Als Kind blickte ich in den Spiegel und sah sofort, dass ich anders war: wie dunkel meine Haut war, wie kraus meine Haare. Um mich herum nur kleine Blonde: meine Adoptiveltern und meine beiden Adoptivbrüder. Ich dagegen: ein hochgewachsenes Kind, mit dünnen Beinen und schwarzem Haar. Damals, in den siebziger Jahren, war ich das einzige schwarze Mädchen in Waldtrudering, einem beschaulichen, grünen Stadtteil von München, wo ich mit meiner Adoptivfamilie lebte. In der Klasse sangen sie «Zehn kleine Negerlein». Ich hoffte, dass sich keiner zu mir umdrehte. Dass keiner erkannte, dass ich nicht wirklich dazugehörte.
    Nach dem Tag in der Bibliothek blicke ich wieder in den Spiegel, diesmal suche ich nach Ähnlichkeiten. Mir graut davor, dazuzugehören, zu den Göths: die Linien zwischen Nase und Mund – so wie bei meiner Mutter und meinem Großvater. Kurz denke ich: Diese Falten muss ich unterspritzen, weglasern, wegschneiden!
    Ich bin groß, wie meine Mutter, wie mein Großvater. Als Amon Göth nach Kriegsende gehängt werden sollte, musste der Henker das Seil zweimal kürzen – er hatte Göths Körpergröße unterschätzt.
    Es gibt einen historischen Filmausschnitt, der zeigt, wie mein Großvater hingerichtet wird. Es sollte dokumentiert werden, dass er auch wirklich tot war. Erst beim dritten Versuch hängt er endlich mit gebrochenem Genick am Seil. Als ich die Szene sehe, weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
    Mein Großvater war ein Psychopath, ein Sadist. Er verkörpert all das, was ich ablehne: Was muss das für ein Mensch sein, dem es Freude macht, andere Menschen möglichst einfallsreich zu quälen und zu töten? Ich finde bei meinen Recherchen keine Erklärung dafür, warum er so wurde. Als Kind schien er noch ganz normal.
    Diese Sache mit dem Blut: Was hat er mir vererbt? Scheint sein Jähzorn auf in mir und meinen Kindern? Im Buch über meine Mutter steht, dass sie in der Psychiatrie war. Es wird auch erwähnt, dass meine Großmutter kleine rosa Tabletten mit Namen «Omca» im Badezimmerschrank aufbewahrte. Ich finde heraus, dass das Psychopharmaka sind, die bei Depressionen, Angststörungen und Wahnvorstellungen eingesetzt werden.
    Amon Göth 1945 nach seiner Verhaftung durch die Amerikaner
    Ich traue mir selbst nicht mehr: Werde ich auch verrückt? Bin ich schon verrückt? Nachts wecken mich furchtbare Träume. In einem Traum bin ich in der Psychiatrie, fliehe durch die Gänge, springe aus einem Fenster in den Hof und kann schließlich entkommen.
    Ich mache einen Termin mit der Therapeutin, die mich früher, als ich noch in München lebte, wegen meiner Depressionen behandelt hat, und reise zu ihr nach Bayern.
    Vor dem Termin ist noch Zeit: Ich fahre ins Münchner Armeleuteviertel Hasenbergl. Hier hat meine leibliche Mutter gewohnt. Manchmal holte sie mich an den Wochenenden zu sich nach Hause. Es sieht noch aus wie damals, nur die Häuserfassaden sind jetzt bunter, das fleckige Grau-Beige wurde gelb und orange überstrichen. Auf den Balkonen trocknet Wäsche, auf der Wiese liegt Müll. Ich stehe vor dem Mietshaus, in dem meine Mutter wohnte. Jemand kommt aus dem Haus und hält mir die Tür auf. Ich laufe die Etagen ab, versuche mich zu erinnern, auf welcher sie gewohnt hat, es muss die zweite gewesen sein. Ich fühle eine vertraute Beklemmung. Hier habe ich mich nie wohl gefühlt.
    Danach fahre ich mit der U-Bahn weiter nach Schwabing, laufe am Josephsplatz mit der schönen alten Kirche vorbei in die Schwindstraße. In einem Altbau mit Kastanie im Hinterhof liegt die ehemalige Wohnung meiner Großmutter. Die Haustür ist offen, ich steige die Holztreppen hoch bis nach ganz oben. Meine Großmutter war der erste Mensch, der mir Trost und Geborgenheit gab. Doch das Buch über meine Familie hat mir das positive Gefühl für sie genommen. Wer war die Frau, die anderthalb Jahre lang an der Seite meines Großvaters in einer Villa am KZ -Gelände in
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