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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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mir nie die Wahrheit gesagt. Aber ich brauche die Wahrheit. Ich muss an Theodor W. Adornos berühmten Satz denken: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Er war damals anders gemeint, aber jetzt scheint er mir perfekt auf mein Leben zu passen.
    Unsere Beziehung war schwierig, unsere Treffen waren sporadisch – aber sie ist trotz allem meine Mutter. Im Buch über Monika Göth wird auch das Jahr 1970 erwähnt, mein Geburtsjahr. Für mich hat meine Mutter kein einziges Wort. Sie schweigt mich tot.
    Immer wieder betrachte ich das Foto im Buch, auf dem sie so aussieht, wie ich sie aus Kindertagen in Erinnerung habe. Tief in mir öffnet sich eine Schublade nach der anderen: Meine ganze Kindheit kommt hoch, die Gefühle aus der Zeit im Heim – Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit.
    Ich fühle mich wieder hilflos wie ein kleines enttäuschtes Kind und bin nicht mehr fähig, mein Leben zu regeln.
    Ich will schlafen, nur schlafen, oft bleibe ich bis mittags im Bett. Mir ist alles zu viel: aufstehen zu müssen, sprechen zu müssen. Sogar das Zähneputzen ist eine Last. Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet, ich schaffe es nicht, jemanden zurückzurufen. Ich treffe mich nicht mehr mit Freunden, sage Einladungen ab. Was könnte ich plaudern, worüber lachen? Meine Familie nehme ich nur noch wie durch eine dicke Glasscheibe wahr: Wie soll ich mich ihnen verständlich machen? Ich verstehe doch selbst nicht, was mir passiert.
    Ich kann es plötzlich nicht mehr ertragen, wenn jemand in meiner Nähe Bier trinkt. Wenn ich Bier auch nur rieche, muss ich mich übergeben: Der Geruch erinnert mich an den ersten Mann meiner Mutter. Er war meistens betrunken, im Rausch verprügelte er meine Mutter.
    Die nächsten zwei Wochen verlasse ich kaum das Haus. Manchmal schaffe ich es, statt der Jogginghose eine Jeans anzuziehen, aber im nächsten Moment überfällt mich wieder diese Müdigkeit, und ich frage mich: Wozu habe ich geduscht und mich angezogen, ich gehe ja doch nicht aus dem Haus?
    Mein Mann kümmert sich so viel wie möglich um die Kinder, erledigt am Wochenende den Großeinkauf, füllt die Tiefkühltruhe, kocht vor. Ich möchte meine Söhne am Nachmittag nicht einfach vor den Fernseher setzen, dann würde ich mich wie eine Rabenmutter fühlen. Stattdessen bestelle ich im Internet ein Set Legosteine – damit sind meine Kinder einige Stunden beschäftigt, und ich kann mich ausruhen.
    Dann versuche ich, wieder rauszugehen, für meine Familie zu sorgen. Aber ich scheitere an den einfachsten Dingen. Im Einkaufszentrum machen mich die vielen Menschen nervös. Ich stehe ratlos vor den verschiedenen Kaffeesorten. Aber muss ich nicht eigentlich viel dringender zur Post? Ich gehe zur Post, aber dort ist die Schlange zu lang, ich eile zurück zum Supermarkt, vors Kaffeeregal. Eigentlich wollte ich doch auch Milch und Brot holen. Aber viel wichtiger ist das Mittagessen, wo bekomme ich das jetzt so schnell noch her? Es wird später, bald muss ich die Kinder aus dem Kindergarten holen, der Druck steigt. Mein Kopf ist mein Gefängnis. Wieder nichts geschafft.
    Ich hatte selber keine richtige Mutter und wollte meinen Kindern geben, was ich entbehrt hatte. Aber jetzt lasse ich sie allein. Ich bereite ihnen Brote, mache ihnen ein Tiefkühlgericht warm. Simple, praktische Dinge. Mehr nicht. Mein älterer Sohn Claudius sucht meine Nähe. Er kuschelt sich abends an mich und redet auf mich ein, spricht schnell, ohne Punkt und Komma, damit ja keine Pause entsteht, in der ich mich wieder abwenden könnte. Ich versuche, mich auf ihn zu konzentrieren, aber ich schaffe es nicht. Ich nicke ab und zu beiläufig, damit er denkt, ich höre zu. Am liebsten würde ich mir einfach die Decke über den Kopf ziehen.
    Warum habe ich nicht herausgefunden, dass ich die Enkelin von Loriot bin?
    *
    Wer mit Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring oder einem Amon Göth verwandt ist, der ist gezwungen, sich mit seiner Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Aber was ist mit all den anderen, den vielen namenlosen Mitläufern und Mittätern?
    Der Sozialpsychologe Harald Welzer kam in seiner Studie «Opa war kein Nazi» zu dem Schluss: Die Generation der Enkel, der heute Dreißig- bis Fünfzigjährigen, kennt meist die historischen Fakten über den Holocaust, sie lehnt die NS -Ideologie entschiedener ab als noch die Generation davor. Doch der scharfe Blick richtet sich nur auf die Politik, nicht aufs Private: Gerade die Enkel reden sich die Rolle ihrer Vorfahren
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