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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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ist. Es handelt sich um die rhetorische Umsetzung der »Unendlichkeit« der ethischen Forderung in Lévinas‘ Sinn. Wenn der Messias nach diesem Kommentar der leidende Gerechte ist, ist er auch derjenige, der das Leid anderer auf sich nimmt und derjenige, der etwas von der unendlich verbreiteten Verantwortung tragen kann, wie sie das Messianische kennzeichnet.
    Obgleich unser Leiden kein Urteil widerspiegelt, bildet das Leiden anderer die Substanz des ethischen Anspruchs, der dauerhaft an uns ergeht. Für Lévinas gibt es kein »Ausweichen« vor dieser Verantwortung: »Gerade die Tatsache, sich der Last, die das Leiden der Anderen auferlegt, nicht zu entziehen, definiert die Selbstheit.« (SF S.   94) Und er fügt direkt im Anschluss hinzu: »Alle Personen sind Messias.« Und: »Das Ich [ Moi ] ist derjenige, der sich selbst dazu ernannt hat, alle Verantwortung der Welt zu tragen.« (SF S.   95)
    Das Messianische ist damit nicht nur eine Erfahrung des Wartens und Leidens, sondern auch eine ungewollte und unendliche Empfänglichkeit für das Gebot, das die Verantwortung für den Anderen koextensiv mit dem Selbst macht. Tatsächlich bildet die Verantwortung für den Anderen die ek-statische Struktur des Selbst, die Tatsache, dass ich aus mir selbst herausgerufen werde und dass dieser Bezug zu einer Alterität mich im Wesen definiert. Wenn wir fragen: »Wer mag der Messias sein?« und dann fragen: »Bin ich es?« verweisen wir indes darauf, dass das Leiden der Anderen sehr wohl gerade unsere Verantwortung sein könnte. Wir fragen: »Geht mich das Leiden des Anderen an, und wenn ja, das Leiden welches Anderen?« Obgleich das Messianische also oft mit einer singulären Person gleichgesetzt wird, die in der Zeit kommen mag oder auch nicht, ist es für Lévinas in jedem Moment im Spiel, in dem wir die Frage stellen: »Wer, ich?« Dieser Moment ist für ihn nicht eigentlich geschichtlich, das heißt, er ereignet sich nicht nur in Erwiderung auf diese oder jene Situation des Leidens. Die Forderung durchzieht die historische Zeit und lässt sich nicht durch historische Verortung »relativieren«, wie es scheint, wenn wir seiner Argumentation bis zu ihrem logischen Schluss folgen. Das Messianische erscheint nicht in der historischen Zeit und es gibt keine endgültige Verifikation, »wer« der Messias ist, da es hier gerade darum geht, die Frage nach dem »wer« offen zu halten. Das Messianische scheint verdeckt und unendlich in der Frageform der ethischen Forderung durch. Wer, ich? Tatsächlich findet sich außerhalb der Frage kein Grund, weshalb ich es sein sollte, aber die Frage impliziert mich, wie sie jeden impliziert, an den sie gerichtet wird (und mutmaßlich ist sie an jeden gerichtet).
    Wenn diese Forderung jedoch aus einer nicht-historischen Sphäre ergeht, die Lévinas die Ordnung des Urteils im Unterschied zur Ordnung des Ereignisses, der Geschichte, nennt, ist schwer zu begreifen, worauf genau wir zu antworten verpflichtet sind. Es scheinen nicht unsere historischen Gegebenheiten oder spezifische historische Formen des Leidens zu sein. Der Messianismus eröffnet für Lévinas eine Perspektive, von der aus sowohl Geschichte wie Politik arbiträr, ungerechtfertigt, ja absurd erscheinen: Wenn wir das absurde Element in der Geschichte nicht spüren können, ist ein Teil unserer messianischen Sensibilität verloren.
    In Schwierige Freiheit bezieht sich Lévinas klar auf die messianische Sensibilität eines bestimmten Kollektivs, der Juden, die seiner Auffassung nach die arbiträre Gewalt der historischen Ereignisse zu spüren bekommen haben. Und obgleich er sagt, dass diese ethische Perspektive die historische Zeit durchzieht, scheint Lévinas das zu vergessen und geht rasch zu einer Erörterung Israels als historischem Ort, Volk und Staat über. Tatsächlich behauptet er anschließend, das Schicksal der Juden sei, im Rahmen eines universalistischen Partikularismus zu handeln. Das ist kein arbiträres Schicksal, sondern ein notwendiges. Und wenn historische Ereignisse für ihn auch etwas Arbiträres haben, liegt doch die jüdische Aufgabe – ihr Schicksal – in der Versöhnung des Partikularen mit dem Universellen. Einerseits ist diese Aufgabe Schicksal und liegt nicht »in der Geschichte«. Es ist eine auserwählte und singuläre Aufgabe oder ein auserwähltes und singuläres Geschick, das sich wiederholt und gegenüber partikularen historischen Ereignissen indifferent bleibt. Auf der anderen Seite begründet
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