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Am Helllichten Tag

Am Helllichten Tag

Titel: Am Helllichten Tag
Autoren: Simone van Der Vlugt
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offenbar, denn er strahlt sie an, sodass sie ganz gerührt ist.
    Sie kniet sich neben den Buggy.
    Es klopft. Nathalie fährt herum und bekommt prompt Herzrasen.
    Sie steht auf, geht zur Tür, macht aber nicht auf.
    »Ja, bitte?«
    »Zimmerservice.« Eine Männerstimme.
    Nathalie öffnet die Tür nur einen Spaltbreit. Im Flur steht ein Mann mit einem Tablett. Sie nimmt es ihm ab, bedankt sich und schiebt die Tür mit dem Fuß wieder zu.
    Das Beefsteak und die Bratkartoffeln duften verführerisch.
    Sie trägt das Tablett zum Tisch und geht dann ins Badezimmer, um Robbies Möhrenbrei zu holen. Wie gut, dass sie nun den Buggy hat: Sie stellt ihn neben ihren Stuhl und füttert das Kind, während sie selbst isst.
    Mit einer warmen Mahlzeit im Magen fühlt sie sich gleich bedeutend besser. Trotzdem will sie früh schlafen gehen. Weil der Kleine immer sehr früh wach wird, ist an Ausschlafen nicht zu denken. Aber das hat sie auch gar nicht vor, zumal ihr wieder eine lange Fahrt bevorsteht.
    Als Nathalie im Bett liegt, kann sie lange nicht einschlafen. Sie starrt in die Dunkelheit. Erinnerungen kommen hoch und drohen sie regelrecht zu überrollen.
    Unruhig wirft sie sich im Bett hin und her und ist ihren bedrückenden Gedanken hilflos ausgeliefert.

6
    Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr verstand sich Nathalie gut mit ihrem Vater. Er war so voller Energie und Optimismus, ein typischer Selfmademan. Er hatte es zu etwas gebracht, obwohl er aus einem der ärmeren Viertel Roermonds stammte. Als junger Mann hatte er eine Autowerkstatt aufgemacht und damit recht gut verdient. Später spekulierte er mit Immobilien, und weil er sich geschickt anstellte, brachte ihm das ein Vermögen ein.
    Er konnte sich eine Villa im Nobelviertel Kitskensdal leisten und heiratete eine bildschöne Frau, mit der er drei Kinder bekam: zwei Töchter und einen Sohn.
    Nathalie war zehn und Cécile sechzehn, als ihre heile Welt zusammenbrach.
    Ihre Mutter und der kleine Bruder, ein ungeplanter Nachkömmling, kamen bei einem Autounfall ums Leben. Aus ihrem Vater, der bisher immer gesellig und gut gelaunt gewesen war, wurde ein in sich gekehrter, mürrischer Mann. Zu allem Übel musste er auch noch harte geschäftliche Rückschläge einstecken. Er war gezwungen, die Villa zu verkaufen, und sie zogen in ein einfaches Reihenhaus.
    Das gab ihm offenbar den Rest, denn nun veränderte sich sein Wesen vollends. Er trank zu viel, bekam wegen der kleinsten Kleinigkeit Wutanfälle und prügelte. Cécile musste als Sündenbock für alles herhalten. Sie war fünfeinhalb Jahre älter als Nathalie, mitten in der Pubertät und aufmüpfiger als ihre Schwester. Nicht selten bekam Nathalie mit, wie sich der Vater mit roher Gewalt Zugang zu Céciles Zimmer verschaffte, wenn sie sich nach einem heftigen Streit eingeschlossen hatte.
    In solchen Situationen versteckte sie sich hinter dem Vorhang in ihrem Zimmer und hielt sich die Ohren zu, um die Schläge und Céciles lautes Weinen nicht zu hören.
    Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag zog Cécile aus und ließ sich so gut wie nicht mehr zu Hause blicken.
    »Zum Glück hab ich dich noch«, sagte der Vater. »Versprich mir, dass du nie so wirst wie deine Schwester!«
    Nathalie versprach es und meinte es durchaus ernst. Nie würde sie es wagen, ihren Vater so anzuschreien wie Cécile, geschweige denn, sich gegen seine Schläge zu wehren. Dass man mit einem solchen Verhalten alles nur noch schlimmer macht, hatte sie zur Genüge mitbekommen. Sie nahm sich fest vor, ihm nicht den geringsten Anlass zu geben, sie zu schlagen.
    Zunächst deutete auch nichts darauf hin. Nathalie war der erklärte Liebling ihres Vaters.
    »Dass ich dich habe, ist wie ein Geschenk«, sagte er. »Du bist meine kleine Prinzessin.«
    Als ausgesprochen hübsches Kind mit dunklen Locken und braunen Augen hatte Nathalie von jeher alle bezaubert, und ihr Vater wurde nicht müde, das immer wieder zu erwähnen. »Du bist so ein liebes Mädchen und hast deiner Mutter und mir immer nur Freude gemacht«, sagte er. »Warum spielst du eigentlich nicht mehr Geige wie früher? Hol sie doch mal und lass was hören!«
    Als Nathalie dreizehn wurde, hatte sie nur noch wenig Lust, auf Kommando Geige zu spielen, bloß damit ihr Vater keinen Wutanfall bekam.
    Sie war ihren Klassenkameradinnen in der Entwicklung voraus, hatte bereits ihre Tage, bekam einen Busen, begann sich zu schminken und für Jungs zu interessieren. Gleichzeitig merk te sie deutlich, dass ihr Vater Probleme
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