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Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)

Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Am Freitag schwarz: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Michael Sears
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Wall Street macht dich nicht annähernd fit für den Augenblick, in dem ein Hundertfünfzig-Kilo-Latino mit dunkelroter Narbe quer über den Hals von der anderen Seite des Kantinentisches zu dir hochschaut und heiser sagt: »Hey, Schleimer. Gib mir dein Essen.«
    Ich habe zweimal auf den Tisch geklopft und ihm das Brot und den Kartoffelbrei rübergeschoben. Waffenstillstand.
    Im Vergleich dazu war Otisville ein Klacks. Es ist kein Country Club, was auch immer das Wall Street Journal behauptet haben mag, als ich dahin verlegt wurde, aber diemeisten Häftlinge dort sitzen kürzere Strafen ab und neigen weniger dazu, kleine Zwistigkeiten durch Gewalt auszuräumen; wer angefangen hat, die Tage zu zählen, bis er nach Hause kann, will nicht mehr riskieren, dass seine Strafe verlängert wird. Außerdem war das Essen besser.
    »Mr. Stafford?«
    Ich hatte ihn nicht hereinkommen hören. Er war Verwaltungsmensch, kein Wachmann. Ein bisschen pummelig, Milchgesicht. Froh, dass er einen Bürojob für zehn Dollar die Stunde plus Zulagen hatte – und wenn es die Nachtschicht in einem Bundesgefängnis war. Für einen Moment befiel mich Panik – dass sie mich nicht rauslassen würden. Dass etwas schiefgelaufen war und sie diesen armen Teufel dazu verdonnert hatten, mir das mitzuteilen.
    »Ich wickele die Entlassung mit Ihnen ab. Wir müssen ein paar Formulare durchgehen.«
    Ich holte tief Luft, atmete langsam wieder aus und wiederholte das Ganze. Mein Puls beruhigte sich.
    »Dauert das lange?« Als müsste ich zu einem Termin.
    »Ich werde so schnell machen, wie es geht.« Am Ende eines jeden Satzes hob sich seine Stimme, so dass es klang, als frage er in einem fort. Ich war nicht sicher, wie lange ich das ertragen würde.
    »Ich weiß, es wartet schon jemand, der Sie abholt.«
    Er nickte zu der Plexiglaswand hinüber. Ein Wachmann führte meinen Vater gerade in das Büro nebenan – und aus meinem Blickfeld. »Ich hoffe, wir kriegen Sie ganz schnell raus hier.«
    Er wollte nett sein. Und auch mich freundlich stimmen. Mir fielen ein paar ehemalige Häftlinge ein, mit denen er die Entlassungsformalitäten wahrscheinlich auch geregelt hatte. Das war ein stressiger Job. Ich beschloss, mir Mühe zu geben und es ihm nicht unnötig schwer zu machen.
    »Was muss ich tun?«
    Formulare. Er erläuterte sie bis ins letzte bürokratische Detail. Ich unterschrieb. Er übergab mir ein großes gepolstertes Kuvert; darin waren die Sachen, die ich getragen hatte, als ich eingerückt war. Wäsche, Jeans, ein Polohemd. Ich unterschrieb. Ich unterschrieb ein Entlassungspapier, auf dem stand, dass ich darüber belehrt worden sei, welche formalen Schritte ich einzuhalten hätte, sollte ich gegen etwaige Verletzungen meiner Bürgerrechte, die mir während der Haftzeit widerfahren waren, Beschwerde einlegen wollen. Ich unterschrieb ein weiteres Formular, das die Bundesregierung von jeglicher Verantwortung für solche Übergriffe seitens des Gefängnispersonals freisprach, und ein drittes, aus dem hervorging, dass es ohnehin keine solchen Übergriffe gegeben hatte. Gemessen daran, wie gnadenlos und eisenhart diese Bürokratie war, erwiesen sich die Verantwortlichen doch als sehr sensibel, wenn es darum ging, den eigenen Arsch aus der Schusslinie zu kriegen.
    »Das wär’s. Sie können sich jetzt umziehen. Ich komme Sie dann gleich holen.«
    Die Sachen passten nicht. Meine Taille und die Hüften waren schmaler geworden, Brustkorb und Schultern breiter. Im hohen Alter von vierundvierzig Jahren verfügte ich zum ersten Mal über nennenswerte Brustmuskeln.
    »Gleich« rechnete sich noch in Gefängniszeit. Niemand hatte es eilig mit meiner Entlassung. Mein Vater war nach wie vor, für mich unsichtbar, in dem Büro. Ich setzte mich, zog mir den anderen Stuhl heran, legte die Beine hoch und versuchte, mir das Leben draußen vorzustellen.
    Kein Mann gibt je zu, dass er kurz eingenickt ist, aber ich hatte jedenfalls geträumt. Ich war auf eine Folterbank geschnallt, und jede Umdrehung des Rades jagte einen stechenden Schmerz durch mein Rückgrat.
    »Scheiße!« Ich fuhr hoch und reckte die Glieder. Bei der Einweisung ins Gefängnis hatte ich mich viel jünger gefühlt als jetzt, bei der Entlassung. Draußen sind zwei Jahre eine Episode – drinnen eine Ewigkeit.
    Mein Magen sagte mir, dass es sechs war, vielleicht sieben. Ich dachte an den Hamburger im gediegenen 21 Club . Eigentlich wäre mir jeder Hamburger recht gewesen. Und dazu ein kaltes Bier.
    Die Tür flog
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