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Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil

Titel: Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
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teilte, hatte beide Fenster auf den Bühel, im Sommer waren die Fenster nachts gekippt. Deshalb wachten wir um fünf in der Früh von den ersten Geräuschen der Wetzsteine auf. Manchmal wetzten zwei Männer gleichzeitig, rhythmisch, sch-t, sch-t, sch-t, im Hintergrund hörten wir das ebenfalls rhythmische Sausen der Sensen in den taufeuchten Grasschwaden. Das dauerte ungefähr anderthalb Stunden, wir schliefen zwischendurch wieder ein. Dann gingen der Vater und seine Brüder mit ihren Sensen über den Schultern nach Hause, duschten und fuhren zur Arbeit in die Hypothekenbank, aufs Gemeindeamt, in den Wald, zum Stromablesen und in die Nationalbank.
    Des Menschen Tage sind wie Gras.
    Ein paar Kuckucksblumen dazwischen.
     
    Bei einem meiner Besuche in dieser Woche überredete ich den Vater nochmals zum Armdrücken. Zunächst drückte er in die falsche Richtung, ich erklärte ihm, wie wir es machen müssen, er begriff es, dann ließ ich ihn zweimal gewinnen. Er freute sich, aber mehr über den Blödsinn , den wir machten, als über die Siege, die er nicht kommentierte. Er sagte nur schmunzelnd:
    »Solche, die tun, was wir tun, können sie hier nicht gebrauchen.«

 
    Das Alter?
     
    Ja, es macht den Eindruck, dass ich nicht mehr der Jüngste bin, dass ich zu den Älteren zähle oder zu den Alten. Es ist mir wurscht, wie man es ausdrückt.
     
    Hast du Angst vor dem Sterben?
     
    Obwohl es eine Schande ist, es nicht zu wissen, kann ich es dir nicht sagen.

 
    Es war am Nachmittag gegen Viertel vor vier. Nachdem ich beim Fahrradgeschäft mehr Luft in die Reifen des Fahrrads gepumpt hatte, fuhr ich zum Altersheim, wo ich den Vater im Aufenthaltsraum der Pflegestation nicht entdecken konnte. Ich fand ihn in seinem Zimmer, wo er auf dem Bett lag, die Augen weit offen.
    Auf meine Anrede reagierte er nicht. Ich probierte es nochmals, die Augen blieben starr, keine Reaktion. Ich schaute, ob er atmete – sein Brustkorb hob und senkte sich. Mein Puls ging trotzdem in die Höhe, da auch meine lauter werdende Stimme den Vater nicht erreichte. Ich dachte, es hat ihn der Schlag getroffen oder etwas Ähnliches. Doch bei der zehnten oder elften Anrede zuckte er zusammen und schaute mich entgeistert an, als könne er sich nicht erklären, wie ich so plötzlich an sein Bett gekommen war. Ich fragte ihn aufgeregt, wie es ihm gehe. Er zuckte die Achseln und sagte:
    »Hoffentlich gut.«
     
    Es heißt, jede Erzählung sei eine Generalprobe für den Tod, denn jede Erzählung muss an ein Ende gelangen. Gleichzeitig bringt das Erzählen dadurch, dass es sich dem Verschwinden widmet, die verschwundenen Dinge zurück.
     
    Let us sit upon the ground and tell sad stories of the death of kings.
     
    Nachher saß ich auf dem Stuhl und schaute zum Fenster hinaus auf die Lauteracher Straße, wo gelegentlich ein Auto fuhr. Zwischendurch fragte ich den Vater, ob er mit mir nach draußen gehen wolle. Er wollte nicht. Ich versuchte ihm einen Aufenthalt an der frischen Luft schmackhaft zu machen, er stieg aber nicht darauf ein.
    »Willst du mit mir hinausgehen, Papa? Wir könnten einen kleinen Spaziergang machen.«
    »Wohin spazieren?«, fragte er.
    »Hinaus in den Garten.«
    »Kein Interesse.«
    »Nach Wolfurt, Papa.«
    Er schaute mich an, nickte und sagte zum Beweis, dass sein Herz noch immer wusste, wofür es schlug:
    »Das ist natürlich etwas anderes.«
    Er stand auf und ging mit mir zur Tür. Froh, ihn noch lebend zu wissen, hakte ich mich bei ihm unter.
     
    Je weiter man sich von seiner Herkunft entfernt, desto länger, komme einem vor, hat man gelebt. Legt man diesen Maßstab bei meinem Vater an, ist sein Leben bis zum Krieg kurz gewesen, dann für kurze Zeit lang, dann sehr lange Zeit kurz und erst in der Demenz wieder lang.
     
    Ein Mitbewohner schlurfte daher und fragte mich, ob Der Wolf und die sieben Geißlein nicht eine Geschichte von Kindermordsei. Ich sagte ihm, dass er vermutlich recht habe und dass ich darüber nachdenken werde.
    Mein Vater blickte dem Mann nach, als ob er ihn nie vorher gesehen habe, dann vergaß er ihn wieder.
     
    Seine Mitbewohner nennt er »arme Tröpfe, bei denen man Wille und Leistung nicht nebeneinanderstellen darf«, und manchmal »Faulenzer«, aber ohne sich selber auszunehmen. Er fühlt sich unter seinesgleichen wohl.
    »Hier sind noch mehr dernrige Fulenzer . Die habe alle ich zusammengetrommelt.«
    Ein anderes Mal sagte er solidarisch:
    »Wir sind lauter Geflickte.«
     
    »Ich bin ein harmloser
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