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Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil

Titel: Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
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Krieg gesehen zu haben, meinte er nicht den Krieg, sondern die Zeit danach. In der Gefangenschaft wurde er zum Verladen von Kriegsbeute vergattert, bis er in der Suppe einen offensichtlich verdorbenen Knochen fand und ihn vor lauter Hunger abnagte. Am Tag darauf hatte er die Ruhr und magerte innerhalb kurzer Zeit bis auf vierzig Kilo ab. Die nächsten vier Wochen verbrachte er in einem provisorischen Lazarett am Stadtrand von Bratislava unter Zuständen, von denen ich bis vor wenigen Monaten nichts wusste. Diese vier Wochen blieben ausgespart, die Erzählungen des Vaters begannen meist erst mit dem Tag, an dem ihn die Sowjets laufenließen, »weil ich nichts mehr wert war«.
    Gemeinsam mit einigen anderen Österreichern wurde er von einem Rotarmisten an die March zur slowakisch-österreichischen Grenze bei Hainburg gebracht.
    »Lebt wohl, Österreicher!«, waren die Abschiedsworte des Rotarmisten. Diese Worte murmelt der Vater noch heute manchmal, wenn er in Gedanken ist.
    Für die Heimkehr nach Vorarlberg gingen drei weitere Wochen drauf. Ein mühsamer Hürdenlauf. Der Vater besaß weder Geld noch die für den Übertritt von der sowjetischen in die amerikanische Zone nötigen Papiere. Ein Foto für einen Ausweis wollte er sich nicht machen lassen, weil das Entwickeln vierzehn Tage gedauert hätte. Von Heimweh geplagt, hoffte er auf eine Gelegenheit zum illegalen Grenzübertritt.
    Die Betten, die ihm angeboten wurden, lehnte er ab, weiler wusste, dass er Läuse hatte. Er schlief im Kegelgraben eines Gasthauses und bei Bauern im Heu.
    Nach sechs Tagen des Wartens in Urfahr verhalfen ihm einige Vorarlberger zu einem Versteck unter der Bank eines Rotkreuzwagens, so gelangte er über die Donau nach Linz. Von den Amerikanern wurde er entlaust.
    Jetzt ließ er sich auch fotografieren, weil es in Linz einen Schnellfotografen gab. So entstand das Foto, das er fast sechzig Jahre lang in seiner Geldtasche trug, bis es vor einigen Jahren verlorenging.
    Hinter Innsbruck traf er im Zug die ersten Wolfurter und bat sie um ein Stück Brot. In Lauterach, wo er ausstieg, traf er einen Cousin, der ihn wegen der Magerkeit und der kurzen Haare zunächst nicht erkannte. Der Cousin begleitete ihn nach Hause.
    Die Gefühle des Vaters nach der langen Abwesenheit kann ich mir ausmalen, selbst in mir steigt Freude auf, wenn ich, von Wien kommend, hinter dem Arlbergtunnel die Namensschilder an den Bahnhöfen lese, als seien sie Teil eines Gedichts: Langen, Wald, Dalaas, Braz, Bings, Bludenz .
    Der Vater kam in der zweiten Septemberwoche heim, am 9. September, als das Licht schon wieder gelblich wurde und das dritte Heu eingebracht werden musste, ehe die Birnen- und Apfelernte begann. Und im Oktober saß er wieder auf der Schulbank, als wäre nichts gewesen: ein Abiturientenkurs der Handelsakademie.
    Oder war da doch noch etwas?
    Was damals niemand wusste: Dieser Neunzehnjährige würde sich der Welt nicht mehr öffnen, damit war es einfür allemal vorbei. Er muss sich im Lazarett geschworen haben, ein Leben lang zu Hause zu bleiben, sollte er jemals wieder dorthin gelangen, eine langsame und lange Heimkehr. Der Plan, Elektrotechnik zu studieren, war jetzt vom Tisch. Fakten ändern Gefühle.
    Ich weiß noch, wie oft es in meiner Kindheit Ärger gab, wenn das Thema Urlaub zur Sprache kam und der Vater zum hundertsten Mal sagte, Wolfurt sei ihm schön genug. Damals erschienen solche Sätze als sehr durchsichtige Verkleidungen der Trägheit; und teilweise mag es sich tatsächlich um Ausreden gehandelt haben, aber eben nur teilweise. Erst viel später entwickelte ich ein Verständnis dafür, dass den Weigerungen des Vaters ein Trauma zugrunde lag und dass die Dinge im Herzen kein Ende nehmen und dass das Verhalten des Vaters in der Familie deshalb so aussah, wie es aussah. All die vielen Vorkehrungen, die ihm helfen sollten, sich nie wieder gefährden zu müssen. Solches Heimweh wollte er kein zweites Mal riskieren.
    Es ist eine seltsame Ironie, dass er viele Jahre später doch noch in eine Situation kam, in der er fast jeden Tag nach Hause gehen wollte – und das, weil er vergessen hatte, dass er zu Hause war.

 
    Da, schau, Papa, das ist dein Gartenmäuerchen, das du mit deinen eigenen Händen gemacht hast.
     
    Stimmt. Das nehme ich mit.
     
    Du kannst doch das Mäuerchen nicht mitnehmen!
     
    Nichts leichter als das.
     
    Das geht doch nicht, Papa!
     
    Ich werde es dir schon zeigen.
     
    Aber, Papa! Hallo! Hallo! Das geht nicht! Erklär mir
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