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Als Oma noch mit Kohlen heizte

Als Oma noch mit Kohlen heizte

Titel: Als Oma noch mit Kohlen heizte
Autoren: Willi Faehrmann
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Ich gehe doch weiter.
    Sie warf noch einen Blick auf die fernliegende Brücke. Deutlich konnte sie den Christian an seiner schafsfellenen Lederjacke und der braunen Schirmmütze erkennen. Der Gedanke, der Christian wird mir sicher den leichteren Weg zurück über die Brücke erlauben und mir kein Brückengeld abnehmen, der Gedanke gab ihr neuen Mut.
    Tilla stieß sich kräftig von der höchsten Kante der Eisscholle ab und schlitterte, erst langsam, aber dann schneller und schneller, auf ihren glatten Holzschuhen die Eisfläche abwärts.
    Sie spürte den Luftzug im Gesicht. Das Ende ihres roten Schals flatterte im Wind. Wenn’s doch nur häufiger so schnell ginge!, dachte Tilla.
    Aber dann sah sie am Ende der Scholle den Spalt. Schwarz und gezackt wie ein Blitz zog er sich an der unteren Schollenkante entlang, viel zu breit, um ihn mit einem Sprung überwinden zu können.
    Tilla ließ sich rücklings auf den Boden fallen, breitete die Arme und Beine weit aus und versuchte, die schnelle Fahrt zu stoppen. Das gelang ihr. Dicht vor der Spalte fand sie auf einer aufgerauten Stelle Halt.
    Beim Fall aber hatte sich ein Holzschuh von ihrem Fuße gelöst, glitt weiter, auf die Spalte zu, ganz langsam zum Schluss, wippte einmal auf der Eiskante, bekam das Übergewicht und stürzte hinab.
    Tilla rappelte sich auf und ging mit Hühnerschritten an die Eiskante heran. Tief unten im Abgrund, dort wo die Spalte zusammenlief, sah sie ihren Holzschuh. Er war eingeklemmt. Sie konnte die eingebrannten Anfangsbuchstaben ihres Namens MM deutlich lesen.
    Sie wusste gleich, dass es keinen Weg gab, den Holzschuh wieder emporzuholen. Da stand das Mädchen wie ein Storch, den linken Fuß mit dem Holzschuh fest auf dem Eis und den rechten mit dem Wollsocken hoch an den Körper gezogen. Jedes Mal, wenn sie diesen Fuß kurz auf das Eis stellte, spürte sie die Kälte wie ein Messer und zuckte zurück.
    Jetzt wusste Tilla, dass es um Leben und Tod ging. Sollte sie im Eis erfrieren? Einen Augenblick stand sie starr und wie gelähmt. Schnatternd sprach sie laut und doch nur zu sich selbst:
    „Unter meinem blonden Zopf
    in dem klugen, hellen Kopf
    wohl tausend und mehr Ideen sind.“
    Sie weinte und lachte zugleich.
    „Tausend sind nicht nötig“, schrie sie. „Nur eine Idee, lieber Gott, gib mir nur eine einzige Idee, damit ich hier wieder lebendig herauskomme.“
    Sie humpelte den Weg zurück, die Eisscholle aufwärts, glitt zweimal aus, aber gab nicht auf. Endlich erreichte sie die obere Kante der Scholle.
    Sie fühlte nicht mehr, dass sie überhaupt einen rechten Fuß besaß. Steif waren die Hände. Sie richtete sich auf. Dort drüben am anderen Ufer, fern und klein, stand Christian.
    Erst sprach Tilla ziemlich leise: „Christian, Christian, schau bitte, bitte her und hilf mir.“
    Aber dann schallte es schrill wie ein Möwenschrei über den Rhein und der Schrei wurde von den Eiswänden wie ein Echo hin und her geworfen.
    „Christian, Christian! Hilfe!“
    Der Knecht hörte irgendetwas, legte seine Hand über den Mützenschirm, dass die Sonne ihn nicht blenden konnte, und spähte in das Eisfeld. Das sah Tilla. Sie reckte sich hoch auf, riss den roten Schal vom Hals und schwenkte ihn durch die Luft.
    „Christian! Christian!“, rief sie so laut, dass ihre Stimme überschnappte.
    Christian sah, dass sich mitten auf dem Strom etwas bewegte. Er achtete nicht länger auf die Kasse, rannte am Ufer entlang und begann in das Eisfeld zu steigen.
    Tilla kauerte sich zusammen. Ihre Zähne schlugen gegeneinander. Gelegentlich verlor sie Christian aus den Augen, auch weil sie fast blind vom Weinen war.
    Endlich stampfte der Knecht die weite Eisfläche aufwärts der Tilla entgegen. Schon im Lauf riss er sich die Schafsfelljacke vom Körper. Christian erreichte das Mädchen, schlug sie in den Pelz ein, hob sie auf den Arm und trug sie durch das Eisgebirge bis ans Ufer.
    „Tilla, Tilla“, keuchte er mehrmals, „du machst vielleicht Sachen!“
    „Der Hein wollte mich nicht ohne Geld über die Brücke gehen lassen, Christian. Und es war doch meine Idee.“
    „Ja, Tilla. Ohne dich gäbe es die Brücke nicht.“
    „Und die Pfeiler, die habt ihr nicht gebaut, Christian, Pfeiler wie an der Engelsbrücke in Rom.“
    Sie redet schon alles durcheinander, dachte Christian voller Sorge.
    Am Ufer hatte sich bereits eine Gruppe von Neugierigen versammelt. Christian hielt sich nicht damit auf. Er begann zu rennen und trug das Mädchen zu den Meurers nach
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