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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl
Autoren: Juliet Nicolson
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STREET,
    DIE 1914-1918 IHR LEBEN GABEN.
    ERRICHTET VOM WOHLTÄTIGKEITSVERBAND
    DER ENTLASSENEN SOLDATEN UND
    MATROSEN DES DUKE OF WELLINGTON
     
    Unter der Gedenktafel waren mehr als zwei Dutzend Namen verzeichnet.
    Als sie um die Ecke in die Oak Street bogen, sahen sie in der geöffneten Tür der Hausnummer 52 einen Mann mit breitem Brustkorb stehen, dessen lockiges Haar ihm bis zu den Schultern reichte.
    »Na endlich«, sagte er und strahlte May und Sam an. »Ich bin Nat. Und ihr seid endlich hier.«
    Nathanial Castor, Sohn von Gladys, der geliebten älteren Schwester ihrer Mutter, hatte seinen Cousin und seine Cousine schon vor mehr als einer Stunde erwartet, und obwohl es ihre erste Begegnung war, schloss er zuerst May und dann Sam mit großer Herzlichkeit in die Arme.
    May blickte zurück zu dem Mahnmal in der Cyprus Street.
    »Wir nennen es den Schrein«, sagte Nat. »Er bewahrt die Erinnerung an die gefallenen Soldaten – keine andere Straße Londons hat im Krieg mehr Männer verloren. Es erinnert uns daran, dass sie ihre Pflicht gegenüber ihrem Land erfüllt haben.«
    »Es ist sehr schön«, sagte May.
    »Nicht wahr?«, pflichtete Nat ihr bei. Und dann sagte er: »Hereinspaziert, hereinspaziert, Sarah freut sich auch schon auf euch.«

3
    Als Miss Evangeline Nettlefold sich über den Esszimmertisch beugte und nach einer zweiten Scheibe Toast griff, spürte sie, wie die Naht an der Seite ihres Wollkleids aufplatzte.
    Trotz ihres Körperumfangs überraschte Evangeline ihre Freundinnen oft durch ihre Eleganz, zumal es ein offenes Geheimnis war, dass sie über nahezu kein Vermögen verfügte. Manche fanden ihre vielbewunderten Kopfbedeckungen, die Strohhüte, Baskenmützen und federgeschmückten Kämme, die ebenso häufig wechselten wie die Abbildungen auf den Seiten der Modejournale, ein wenig zu jeune fille für eine Frau, die schon jenseits der vierzig war. Unter den Hüten saßen die unterschiedlichsten Perücken, mit denen Evangeline ihren verheerenden Haarausfall geschickt kaschierte und aus denen sie ein wenig von dem Selbstwertgefühl schöpfte, nach dem sie sich so sehnte. Der gegenwärtige Trend zu eng anliegenden Kleidern jedoch machte ihr das Leben schwer. Sie wünschte, sie wäre in einer früheren Epoche geboren, als prächtig fließende Roben die Folgen allzu vieler schwerer Süßspeisen noch vorteilhaft verdeckt hatten. Mit Schrecken hatte sie gelesen, dass die amerikanischen Modeseiten für das Jahr 1936 schmale Taillen ausriefen. Seitdem hatte sie im Stillen immer wieder mit sich gerungen, ob die damit verbundenen Unannehmlichkeiten die Mühe lohnten.
    Wenn sie daran zurückdachte, wie sehr sie sich bei der Überquerung des Atlantiks im Speisesaal der ersten Klasse dem Genuss hingegeben hatte, überkam sie ein Anflug von Reue. Und nun, hier in England, häufte sie auf höchst beunruhigende Weise weitere Pfunde an. Sie tröstete sich damit, dass das, was nach einem bloßen Mangel an Selbstdisziplin aussehen mochte, einfach nicht in ihrer Macht lag. Wie konnte man von ihr erwarten, dass sie die exquisit geformten Butterkügelchen ausschlug, die die Briten ihren Gästen zu einem Stück Toastbrot servierten?
Welchen Einfluss hatte sie auf die Menge der Sahne, die sie in ihre Nachspeisen rührten? Voller Wehmut erinnerte sie sich daran, wie man ihr im Sommer ein besonders köstliches Dessert serviert hatte, das geschmolzener Eiscreme ähnelte. Diese Fruchtcreme nannte sich Fool, »Narr«, aber zum Narren halten konnte man Evangeline damit nicht; ihr war klar, welche Unmengen an Kalorien sie enthielt. Kalorien interessierten sie. Zu Hause in Baltimore hatte sie Berichte über wissenschaftliche Experimente an Ratten verfolgt, deren Lebenserwartung, wenn man ihre Kalorienaufnahme reduzierte, beträchtlich stieg. Aber darüber konnte sie sich den Kopf auch ein andermal zerbrechen, dachte Evangeline, als sie ihren Toast mit Butter bestrich. Vorhin erst hatte sie gemerkt, dass ihr Reißverschluss in das kleine, aber störende Hautsäckchen unter ihrer Achselhöhle schnitt, und ein Stoßgebet zum Himmel gesandt, die bereits geschwächte Naht möge halten – wenigstens bis nach dem Frühstück.
    Sie hatte eine leise Ahnung, wie es sich anfühlte, schlank zu sein. Einmal war sie allein im Anproberaum zurückgeblieben, als die Schneiderin ein Maßband holen ging. Sie hatte die Chance genutzt, die zierliche Schneiderpuppe zu berühren. Sie begann unter der Büste und ließ ihre Hände an der deutlichen
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