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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen
Autoren: Roopa Farooki
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Ende getrunken hatte. Mum sah erschöpft aus und fragte Asif, ob er seine kleine Schwester ein bisschen halten wolle, sie vorsichtig auf den Schoß nehmen wolle, als wäre das eine große Ehre. Aber Asif drückte sich ganz tief ins Sofa und sagte: »Nein, will nicht.«
    »Nein, danke «, verbesserte ihn Lila.
    »Nein, danke«, wiederholte Asif gehorsam. Obwohl er Babu nicht gerade hasste, wollte er doch nicht, dass sie ihm zu nahe kam. Sie sollte lieber im Zimmer nebenan bleiben. Aber Babu war nie im Zimmer nebenan, außer mit Mum, und bald wurde ihm klar, wenn er Mum in seiner Nähe haben wollte, musste er Babu in Kauf nehmen. Und immer hing Babu so komisch an Mum, nuckelte äußerst konzentriert und manchmal mit einem leicht schielenden Lächeln, von dem Asif ein bisschen schlecht wurde. Doch die Stillzeiten schienen die einzigen Momente, in denen Babus Geschrei verstummte.
    Fast zwei Jahre später, als Babu schon so alt war, dass sie laufen, richtige Kleider tragen und in einem Hochstuhl sitzen konnte und schon alle Zähne hatte, wurde sie immer noch von Mum gestillt. Natürlich nannte Asif sie da nicht mehr Babu, sondern bei ihrem richtigen Namen, Yasmin oder abgekürzt Yas. Sie war kein Baby mehr, obwohl sie immer noch schrie oder, schlimmer noch, Wutausbrüche bekam und den Kopf gegen die Wand schlug, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Sie konnte sogar ein wenig sprechen, sagte aber nicht viel mehr außer »Nein!«, »Kaka!« und am häufigsten »Mama-Mama-Mama!«, ihre ständige Forderung. Da erkannten er und Lila im zarten Alter von sechs und fünf Jahren mit kindlicher Verzweiflung und einer Resignation, die man eher einem Erwachsenen zugetraut hätte, dass dieses Schreibaby, diese kopfknallende Yasmin mit ihren Wutausbrüchen, ihnen ihre Mutter gestohlen hatte. Und dass sie sie nie zurückbekommen würden. Dass sie recht hatten, machte diese Erkenntnis zu einer kleinen Tragödie.

Erinnerungsbruchstücke und ihre Farbe
     
     
     

     

     
    Ich heiße Yasmin Murphy und habe kaum Erinnerungen an den Vormittag, als meine Mum starb, was merkwürdig ist, weil ich mich normalerweise an alles erinnern kann, was an einem bestimmten Tag passiert. An alles. Wirklich alles .
    Greifen wir zum Beispiel willkürlich einen Tag heraus wie den 27 . März letzten Jahres (ich habe diesen Tag gewählt, weil der März der dritte Monat des Jahres ist und Drei meine Lieblingszahl, denn sie ist rosa und in meinem Kopf ein bisschen aufgeplustert wie Zuckerwatte oder Wolken beim Sonnenuntergang, und siebenundzwanzig ist die Kubikzahl von drei, also 3 x 3 x 3 oder drei hoch drei – deshalb sind Würfel meine Lieblingsformen. Also ist das Datum doch kein Zufallstag, aber nur weniges ist Zufall. Die meisten Dinge haben einen Grund, was für neurotypische Menschen nicht immer augenscheinlich ist, aber ich bin nicht neurotypisch). Ich könnte Ihnen sagen, dass an diesem Tag die Temperatur in meinem Zimmer siebzehn Grad Celsius betrug, dass ich die schwarze Hose mit der ungleichmäßigen Naht an den Beininnenseiten anhatte – die Nähmaschine muss ein paar Stiche übersprungen haben – und dass ich fünf Knöpfe meiner Strickjacke zugeknöpft hatte, der pinken Strickjacke mit dem kratzigen Etikett hinten am Hals, und dass ich Löcher in die Jacke stach, als ich mein Epilepsie-Warnschildchen anpinnte, und ich könnte Ihnen erzählen, wie blechern und spitz sich das Schild in meiner Hand anfühlte, wie muffig-metallen es roch, ein bisschen wie Kupfermünzen, worüber ich lächeln musste, weil ich es mag, wenn Kupfermünzen in meiner Hand warm werden und schwer in der Tasche wiegen und klimpern, und ich könnte Ihnen auch erzählen, dass das Schild eine kleine Macke hatte, weil es mal abgefallen ist und ich draufgetreten bin und mir in den Finger gestochen habe, als ich es wieder anstecken wollte, und der eklige Mr. Johnson hat mir zu lange auf die Brust geguckt, als er das Schild las, und mir auf die Schulter geklopft. Ich nenne ihn eklig, weil ich es nicht mag, wie er beim Lächeln sein Zahnfleisch zeigt, und ich mag es auch nicht, wenn er mich anfasst oder wenn mich sonst wer anfasst, obwohl ich jetzt älter bin und Berührungen über mich ergehen lassen kann, ohne gleich wie früher einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.
    Ich erinnere mich an alle Details, aber diese Details sind größtenteils irrelevant, wie meine ältere Schwester sagt, Kalila, die aber lieber Lila genannt werden möchte, und deshalb nenne ich sie von jetzt
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