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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann
Autoren: L Murray
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früh beschloss ich, dass ich mich über alles »Mädchenhafte« genau wie Daddy lustig machen würde, damit er vergaß, dass ich auch ein Mädchen war. Ich sorgte dafür, dass meine Stimme nie sanftmütig klang. Kleider waren eine Lachnummer – »Mädchenkram«, an dem ich sowieso nicht interessiert war. Ich wusste, dass es funktioniert hatte, als Daddy begann, für mich dieses Jungenspielzeug mit nach Hause zu bringen. Dann lächelte er, das registrierte ich genau, und sah mich viel, viel länger an als Lisa.
    Ich nahm ihm ungestüm den Spielzeuglaster ab (den ich zufällig wirklich gut fand) und rief: »Klasse! Danke, Daddy!« Ich fuhr mit dem Ding über den Couchtisch und machte dazu für ihn laute Motorengeräusche.
    Daddy lächelte mir beifällig zu und wühlte weiter in seiner Tasche.
    »Das Beste habe ich bis zum Schluss aufgehoben«, sagte er an Ma gewandt, die neugierig von ihrem Stuhl am Wohnzimmertisch zu ihm aufblickte. Sie war gerade dabei, den Ventilator auf uns alle auszurichten, aber bei dieser Luftfeuchte wirbelte er nur warme Luft durcheinander.
    Ihr Geschenk muss etwas Besonderes sein, dachte ich, als ich Daddy dabei beobachtete, wie er es vorsichtig aus mehreren Lagen Zeitungspapier wickelte.

    »Trara, trara!«, sagte Daddy scherzhaft und hielt eine Schmuckschatulle aus Kristall zwischen seinen steifen Fingern in die Höhe, wie ein Kellner, der ein kunstvolles Gericht präsentiert.
    Ma seufzte lang und zufrieden, als sie das Geschenk vorsichtig in die Hand nahm. Davor war sie nur halb bei der Sache gewesen, aber aus ihrer Reaktion konnte ich ablesen, dass ihr die Schatulle wirklich gefiel – obwohl ich den Gedanken, dass sie keinen Schmuck hatte, um ihn hineinzulegen, nicht verhindern konnte. Während Ma die Schatulle begutachtete, erzählte Daddy seine Story.
    »Ihr hättet sehen sollen, wie mich diese Frau als Verrückten abgestempelt hat, weil ich den Müll ihrer Nachbarn durchwühle. Ihr wisst ja, was ich dazu zu sagen habe.«
    Er streckte seinen Mittelfinger in die Luft und verzog das Gesicht. »Ihr könnt mich mal, genau. Gaffer. «
    Die Schmuckschatulle war flach, rund und aus geschliffenem Kristall. Ein schwerer Silberdeckel, verziert mit einer kunstvollen Gravur, verschloss das Ganze. Auf dem Deckel befand sich am Rand eine einzige silberne Rose, die elegant nach vorn geschwungen war. Wenn man sie verdrehte, ertönte, während sich die Rose in langsamen Kreisen drehte, so liebliche Musik, als würde sie ein trauriges Ballett tanzen. Es war wunderschön. Ich wollte die Schatulle sofort für mich haben.
    »Daddy, kann ich sie haben?«, kam Lisa mir kreischend zuvor. Daddy ignorierte sie.
    »Wer schmeißt denn so etwas Hübsches in den Müll?«, fragte Ma.
    »Keine Ahnung, Pech für sie. Ich hab’s am Astor Place gefunden, unterhalb dieser Loftgebäude«, berichtete Daddy, während er die Schnürsenkel seiner Sneakers mit hektischen, schnellen Handgriffen aufband. Er hatte die Angewohnheit, Doppel-, manchmal sogar Dreifachknoten zu machen.
    »Okay, können wir jetzt essen?«, fragte Lisa wieder.
    Ich war erleichtert, dass sie das Thema zur Sprache brachte;
mein Magen krampfte sich schon zusammen, aber ich wollte nicht für eine Unterbrechung sorgen. Wir hatten seit dem Frühstück, zu dem Lisa und ich uns Mayonnaisesandwichs gemacht hatten, nichts mehr gegessen. Manchmal aßen wir tagelang nur Eier- und Mayonnaisesandwichs. Lisa und ich hassten sie einhellig, aber sie brachten uns durch viele Tage, an denen mein leerer Magen sich zusammenkrampfte und brannte und es als Alternative nur Wasser geben würde. Der Schecktag lag fünf Tage zurück, also war das Geld komplett ausgegeben und die Lebensmittel im Kühlschrank fast aufgebraucht. Ich freute mich auf ein Abendessen, was auch immer es dazu gab.
    »Einen Moment noch«, erwiderte Daddy. »Wartet noch einen Moment, lasst mich erst mal ankommen.«
    Während Lisa sich vor den Fernseher setzte, waren Ma und Daddy in ihrem Schlafzimmer beschäftigt. Ich stand abseits und beobachtete sie vom Flur aus, der Trennung zwischen meinem und ihrem Zimmer.
    Ma durchforstete ihren Plattenstapel im Schrank. Weil Daddy da war, würde sie sicher nicht Judy Collins auflegen; sie war guter Laune, also würde es etwas Beschwingtes sein. Beide standen gemeinsam wie an einem Zwei-Mann-Fließband mit einer mysteriösen Zielvorgabe. Daddy saß auf der Bettkante und sortierte etwas, das wie Dreckklümpchen aussah. Er hielt das Zeug zwischen den Fingerspitzen und
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