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Alpenkasper

Titel: Alpenkasper
Autoren: Willibald Spatz
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Mann und Frau von Gott füreinander bekommen hatten.
    »Modern ist alles in unserer Zeit. Aber was ist modern? 30 Dinge gleichzeitig anzufangen, sich aber auf nichts mehr richtig einzulassen, am wenigsten auf unseren Nachbarn, unseren Nächsten, der ja der Wichtigste ist nach Jesu Wort. Ich lade euch ein, Brüder und Schwestern, einmal von allem loszulassen, was uns drückt, was uns bevorsteht – morgen, die kommende Woche, in diesem Jahr – und uns nur einen Augenblick einzulassen auf das Hier und das Jetzt, auf die Menschen, die hier sind, auf dieses Paar, das sich hier eingefunden hat, um sich vor Gott einander zu schenken. Und wenn es uns gelingt, diesen Augenblick bewusst zu leben und als den einzigen Augenblick, der zählt, dann verspreche ich euch, dass das der kostbarste Augenblick sein wird. Und nur in diesem einen Augenblick erfahren wir Gottes Nähe und Unendlichkeit, wenn wir es zulassen gegen den Strom der Zeit, der uns schon morgen wieder mit sich reißen will. Seht die Kinder, denen das gelingt wie keinem von uns. Sie sind, so sagte Jesus, dem Himmelreich näher als wir. Lernt von den Kindern, die Gott euch schenken wird. Amen.«
    Es folgte eine von wenigen Hustern und Schneuzern unterbrochene Stille, nach der der Pfarrer anhob, um das Glaubensbekenntnis zu beginnen. In diese Stille flog von der Empore nach vorne eine ziemlich gut gezielte Flasche auf den Geistlichen. Sie traf den Prediger und dieser zerplatzte in tausend die versammelte Gemeinde besudelnde Teile. Die Gemeinde mit Ausnahme von Birne drehte sich um, als hinter ihnen Gelächter zu hören war. Da stand Lugner in all seiner Breite und in Begleitung seines helfenden Knaben und schrie: »Birne, du Schweinemann, wo immer du hingehst, was immer du vorhast, ich werde vorher da sein und alles kaputt machen.«
    Die Braut weinte.
    Birne blickte nach oben und sah dort die Statue der Mutter Maria. Ihr liefen dunkle, blutrote Tränen über die Wange. Birne fiel auf die Knie vor sie hin, er beugte den Kopf und weinte.
    »Verzeih«, sagte er. »Ich habe alles falsch gemacht. Ich will bereuen. Nimm mich, erschlag mich, nur lass mich nicht leben mit dieser Schuld. Ich bin klein, du hast mich in die Irre gehen lassen, führ mich wieder ans Licht.«
    Von außen fanden die Strahlen der Sonne den Weg in den Kirchenraum und erhellten alle Anwesenden. Lugner stieß ein ersticktes Stöhnen aus und brach dann zusammen, sein Gehilfe konnte ihn im letzten Moment stützen, ansonsten wäre er nach unten gestürzt. Die Versammelten sahen es und staunten.
    Lugner konnte nicht sofort verhaftet werden, er musste mit einem Notarzt abtransportiert werden. Er hatte einen Schlaganfall erlitten, er war gelähmt, ob er wieder sprechen, gehen oder gar verhandlungsfähig werden würde, war selbst nach Wochen noch nicht klar.
    Birnes Trauung wurde an diesem Tag nicht mehr vollzogen, war vorerst verschoben. Die Festgäste fuhren getrennt nach Augsburg zurück, trafen sich aber noch beim Kiosk »Sonnenglück«, um den Schock hinunter zu spülen. Birne kam nicht mehr mit. Er legte sich daheim hin und schlief 20 Stunden. Für Katharina und ihn waren die folgenden Tage nicht einfach, sie fanden lange keine Worte, um miteinander über das Vorgefallene zu reden. Erst allmählich fanden sie wieder zueinander, wagten es aber vorerst nicht, über ihre Zukunft zu sprechen. Sie richteten sich zusammen ein in einem Zustand, über den sie nicht nachdachten. Sie brauchten sich und fürchteten doch diese Angewiesenheit auf den anderen.
     

Stellungnahme
    Birne bot Kaffee an, der stinkende Reporter nahm gern an. Fett schnaufend ließ er sich auf den Stuhl fallen, holte schwerfällig sein Diktiergerät aus seinem Rucksack, faltete einen Zettel, auf dem er seine Fragen notiert hatte, auseinander.
    »Also.«
    »Mein Bruder schreibt auch für die Zeitung, er heißt Jakob. Kennen Sie den?«
    Gierig wanderte der Blick des Reporters der Kaffeetasse hinterher, die Birne herantrug. Er kannte Jakob nicht, hatte den Namen aber schon mal gelesen und sich gefragt, wie die beiden wohl zusammenhingen.
    »Ich kenne Ihren Bruder nicht, tut mir leid. Herr Birne, Sie machen so einen unternehmungsfreudigen, lebenslustigen Eindruck. Wenn man in Ihre Biographie blickt, sieht man, was Sie alles in Ihrem jungen Alter erreicht haben! Wo ist denn Birne in zehn Jahren?«
    »Ich freue mich, dass Sie mich das fragen, denn das gibt mir endlich die Gelegenheit, über meine Ängste zu sprechen.«
    »Birne hat Ängste? Ja,
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