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Alles ist grün

Alles ist grün

Titel: Alles ist grün
Autoren: David Foster Wallace
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mit Ständer aus dickem lakritzschwarzem Karton. Die Hülle ist jetzt über der Sonnenblende festgeklemmt, neben einem Mautschein, über dem Beifahrersitz im Wagen meiner Mutter. Ich lass die Fenster hochgekurbelt, um jede Möglichkeit zu negieren, dass das Foto herumgeweht und beschädigt wird. Im Juni lasse ich in einem Auto ohne Klimaanlage ihrem Foto zuliebe alle Fenster zu. Sagt das etwa nicht schon alles?«
    ›Bruce, also, ich sehe mich veranlasst, dich daran zu erinnern, dass sich eine Fiktionstherapie, die Erfolg haben soll, in dem angestrengten, man könnte sogar sagen hart eingeschränkten, definierten und strukturierten Raum verorten muss, in dem sie agiert. Sie muss als Text angenommen werden, das heißt als Fiktion, das heißt als Projekt. Mit seinen Ängsten umgehen, indem man einen Ablenkungsstrang etabliert, der jetzt weder Ursprung noch Ziel zu haben scheint.‹
    »Eine solche Fiktion interessiert mich nicht.«
    ›Schon, aber denk dran, dass wir entschieden haben, einen Fall zu konstruieren, in dem deine Interessen ausnahmsweise denen eines anderen untergeordnet werden.‹

    »Sie ist also Leserin und nicht nur Objekt?«
    ›Siehe obigen Nachweis; sie wird hier dergestalt konstruiert, dass sie ausnahmsweise auch Subjekt ist.‹
    »Also Entlastung durch Erfindung? Die therapeutische Lüge gaukelt vor, die Wahrheit sei eine Lüge?«
    ›Was dir spiegelnden Spielraum bietet, perspektivisches Desinteresse, die Gelegenheit zu emotionaler Großzügigkeit.‹
    »Ich finde, er kann machen, was er will, wenn er sich dadurch besser fühlt. Ich hab ihn immer noch sehr gern. Nur nicht mehr auf diese Weise.«
    »Ende Mai 1983 ist ihr emotionaler Bus abgefahren. Ich entdecke in mir ein Bedürfnis, weit weg zu fahren. In Geografie zu machen. Ich lenke den geschlossenen Wagen meiner Mutter auf dem heißen Interstate 95 in Süd-Maine Richtung Norden nach Prosopopeia, der Heimatstadt des Bruders meiner Mutter und seiner Frau, fast an der Grenze zu Kanada. Wenn ich den I-95 die ganze Strecke von Worcester, Massachusetts, hochfahre, kann ich Bostons Westen geruhsam umfahren, weit weg von Cambridge, das ich nie wiedersehen möchte. Ich bin Bruce, ein ungeschlachter, über den großen Onkel gehender, blonder, blasser, rotlippiger Junge aus dem Mittleren Westen, zweiundzwanzig, habe am MIT gerade meinen Abschluss in Elektrotechnik gemacht, bin gerade von diversen Uni-Honoratioren zur Förderung empfohlen worden, im Putativtriumph mit meiner Familie nach Bloomington, Indiana, zurückgekehrt, nur um dort von einer gewissen kühlen, straffen, schmalhüftigen und so weiter Studentin an der Indiana University einen Tritt in die psychischen Eier zu kriegen, vom Objekt meiner theoretischen Leidenschaft, fernen Verehrung und drei Jahre lang nahezu totalen Treue sowie seit dem letzten Thanksgiving zukünftigen Verlobten.«
    »Dabei hatte ich damals nur gesagt, meinst du, wir schaffen das. Er hatte mich gefragt, ob er mich eines Tages fragen dürfe.«
    »Weihnachten war ich wieder zu Hause: Am Abend des 27.   12. tranken wir Champagner und lagen auf ihrem Leopardenfellvorleger.«
    »Ich hab ihm hundertmal erklärt, dass das kein Leopardenfellvorleger ist: Der Vormieter hatte einfach einen Hund.«
    »Wir diskutierten potenzielle Vornamen für potenzielle Kinder. Sie sagte, bei einem Mädchen könnte ihr ›Kate‹ gefallen.«
    »Und dann war es plötzlich, als wäre er plötzlich nicht mehr da.«
    »An dem Punkt erwähnte sie, ich wäre plötzlich so weit weg. Zur Erklärung erwiderte ich, beim Champagner wäre mir plötzlich die Idee für eine nachgerade entscheidende Arbeit gekommen, wie sich die Zustandsvariablentechnik auf die Analyse differenzieller linearer Kontrollsysteme anwenden ließe. Eine Arbeit, die Dreh- und Angelpunkt meines Projekts im Abschlussjahr hätte werden können, das mich monatelang beschäftigt und definiert hatte.«
    »Er ging ins Büro seines Dads an der Universität, und ich bekam ihn zwei Tage lang nicht zu sehen.«
    »Sie sagt, da hätte sie angefangen, die Dinge anders zu sehen. Dieser neue Statistiktyp hat sie garantiert getröstet, während ich zwei schlaflose, Cola-und-Pizza-befeuerte Tage über einer Arbeit saß, die sich als leer und impraktikabel erwies. Ich suchte bei ihr Trost und fand sie fast schon feindselig. Ihre Augen waren dunkel, sie war schweigsam und versuchte mit allen Kräften, unglücklich auszusehen. Sie hatte praktisch dauernd den Unterarm vor der Stirn. Ganz das Szenario
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