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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen
Autoren: Juli Zeh
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Tschechisch, Polnisch und die ex-jugoslawischen Sprachen ohne größere Probleme. Wer ein sorbisches Gymnasium absolviert, ist an der Karlsuniversität in Prag zum Studium zugelassen. Im Rahmen des Witaj-Programms werden Tagesstätten und Schulen geschaffen, in denen auch Kinder aus deutschen Familien beim Zusammenleben und -lernen die zweite Sprache spielerisch einüben sollen. Dieses Modell könnte den bundesweiten Versuch, sprachliche Minderheiten von Einwanderern möglichst reibungslos einzudeutschen, um eine interessante Perspektive erweitern. Wenn Sprache und Kultur der Sorben auf diesem Weg einen neuen, überregionalen Stellenwert erhielten, bestünde auch keine Gefahr, das Bewahren schöner Bräuche in blutleere Volkstümelei ausarten zu lassen. Experimentelle sorbische Theaterstücke von jungen Autoren haben kaum eine Chance, in Bautzen zur Aufführung zu gelangen.
    Wir beenden den Befragungsmarathon, verabschieden uns von Frau S. und hinterlassen Spuren feuchter Finger auf der Plastiktischplatte. Draußen massiert uns der Lausitzer Wind den Rücken.
    »Wenn ich Sorbe wäre«, meint F., »würde ich mich jedenfalls ungern auf ein Osterei reduzieren lassen.«
    Kokett senkt Bautzen in der Abenddämmerung die Augenlider. Wir vergnügen uns mit der Besichtigung von Öffnungszeiten an hiesigen Kneipentüren. Jede Großstadt würde vor Neid erblassen. F. hat errechnet, dass auf 190 Einwohner je eine Gaststätte kommt. Während wir im »Hardliner« gemeinsam mit den beiden Barkeepern auf die anderen 188 Gäste warten, kommen wir zu einem Fazit. Erstens: Irgendwie ist Bautzen trotz OVG und Gelben Elends eine gesegnete Stadt. Zweitens: Vielleicht wird Deutschland seine slawischsprachige Minderheit nach der Osterweiterung wirklich zu schätzen lernen. Vielleicht wird man dann, auch ohne Bomben und Separatismus, in Aachen wissen, was ein Sorbe ist. Drittens: Genau das wünschen wir uns.
    2003

Sarajevo, blinde Kühe
    F ünf Menschen würde ich dorthin bringen. Mit verbundenen Augen, versteht sich. Einen würde ich in Baščaršija platzieren, inmitten der türkischen Altstadt, dass ihm die Tauben um die Füße rascheln und der Gesang der Muezzine den Kopf ausräumt. Den nächsten setzte ich nur dreihundert Meter weiter ab, in der Fußgängerzone vor der Kathedrale, wo sich alles trifft, wo er hin und her geschoben würde von wartenden, rauchenden, lachenden jungen Menschen, angefallen von den handfesten Parfümwolken glitzernder Mädchen. Noch fünfhundert Meter in westlicher Richtung lehnte ich den Dritten an die Steinbrüstung der Autobrücke, seine Vorderseite dem Sport- und Kulturklotz Skenderija zugewandt. Vorbeirumpelnde LKWs und kreischende Straßenbahnen würden ihn schütteln, dass er sich nicht zu rühren wagte, der Fluss ihn schwül anatmen aus nächster Nähe, dass ihm das Luftholen zur sportlichen Übung würde.
    Den Vierten schließlich brächte ich eine halbe Autostunde aus der Stadt in die Berge rings um Sarajevo, stellte ihn zwischen den Obstbäumen eines kleinen Grundstücks mit Holzhäuschen und wackliger Sitzbank in den Halbschatten, dass die pralle Sonne ihn nicht träfe, und er würde den Kopf in den Nacken legen und das Gesicht dem jeweils lautesten Vogel zuwenden.
    Dann nähme ich den vieren die Augenbinden ab: Wo sind wir?
    Der Erste, neben dem achteckigen Brunnen Sebilj, umgeben von Lederwaren, getriebenem Kupfer und Süßigkeiten in ungenießbaren Farben – er riefe aus: Istanbul! Wie schön! Ich liebe die Gerüche der orientalischen Märkte – als würde man den Kopf in ein Gewürzfass stecken!
    Der Zweite, ein wenig enttäuscht womöglich: Ach, Wien, wenn überhaupt, erträgst du es nur im Mai. – Dann, stutzend, sich auf die fremde Sprache besinnend, der er schon eine Weile gelauscht hat: Oder nein, es ist Budapest! Wie dumm von mir. Österreich-Ungarn sieht doch überall gleich aus.
    Die Augenbinde vor den Mund gepresst, keuchte der Dritte: Wenn ich eins nicht leiden kann, ist es stalinistische Architektur, diese abgasschwarzen, martialischen Brocken, deshalb hasse ich Warschau, es ist … – Den Rest schluckte der Lärm der nächsten Straßenbahn.
    Und der Vierte, angenommen, es wäre ein wirklich sonniger Tag, richtete den Blick über das Tal und riefe: Da sage einer, Deutschland besitze keine schönen Landschaften! Die schroffen Gipfel, davor der saftige Wald, unten leuchtet ein grüner Fluss – man braucht bloß nach Bayern zu fahren und trifft auf die reinste
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