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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Autoren: Christian Y. Schmidt
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in den ersten Stock. Auf jeder Reise frage ich mich, warum er am Ende so schwer geworden ist, obwohl ich doch nur das Nötigste eingepackt habe. Aber vielleicht habe ich es mit der Reisebibliothek doch ein wenig übertrieben, und die acht Notizbücher wiegen seltsamerweise auch etwas. Nach dem Wuchten und dem Wundern will ich in der Stadt was essen. Durch eine schmale Gasse, in der kaum zwei Menschen nebeneinanderpassen, gehe ich hinunter zum Kanal. Ein kleines Büchlein, das an der Rezeption meines Hotels ausliegt, behauptet, es gäbe neun von diesen Kanälen, die die Stadt in acht Teile zerschneiden, 104 Brücken, die diese Teile wieder verbinden, dazu genau 122 Gassen. Ich werde mal versuchen herauszukriegen, ob das stimmt. Eines weiß ich schon jetzt: Der kleine Reiseführer ist ein perfektes Zeugnis des allgemein verbreiteten chinesischen Erfassungs-und Statistikwahns. Das muss ich also auch draufhaben, wenn ich wirklich ein echter Chinese werden will. Über das Alter der Stadt ist dagegen nur Diffuses zu lesen. Alt sei sie, sehr alt. Stadt wurde sie erst zu Beginn der Ming-Dynastie, das heißt im 14. oder 15. Jahrhundert. Und die höchste Brücke über einen der Kanäle stammt aus dem Jahr 1581. Sie sei im ganzen Land berühmt, so sagt ein Schild, wegen ihrer drei Rundbögen. Tatsächlich sehe ich nur einen Bogen. Das liegt daran, dass die Brücke eher Chabuduo’r rekonstruiert wurde, vor zehn Jahren. Wahrscheinlich ist die ganze «antike» Wasserstadt nicht echt. Chinesen haben einen völlig anderen Authentizitätsbegriff als der durchschnittliche Westler. Historische Gebäude wurden in der Geschichte Chinas immer wieder abgerissen und durch «bessere» neue ersetzt, bis heute. Selbst das Tor des Himmlischen Friedens in Peking, Teil des alten Kaiserpalastes, hat man noch vor rund fünfzig Jahren ausgetauscht. Das neue Tor ist ein bisschen höher als das Original, was natürlich auch besser ist.
    Aber selbst wenn alles hier falsch sein sollte: Der Schönheit dieses Mini-Venedigs tut es keinen Abbruch. Die Andenkenläden nehmen nicht überhand, verkauft werden neben ein paar Tom-Cruise-Tassen hauptsächlich essbare Spezialitäten der Gegend, Eisbein in schwarzer Sauce und kleingehackte und getrocknete grüne Bohnen zum Knabbern. Und es ist ruhig, was auch daran liegt, dass sich die Touristen ausnahmsweise an ein Schild halten, das auf Chinglish mahnt: «Be careful. Don’t be crowded.» Trauerweiden und rote Lampions wiegen sich leicht im Wind, und auf dem Wasser dümpeln kleine Fischerboote. Ich setze mich direkt am Kanal auf die Terrasse eines Restaurants. Von hier aus kann ich auf ein am Ufer vertäutes Boot sehen, auf dem fünf festgebundene Kormorane hocken. Man setzt sie zum Fischen ein, sie tragen Schlingen um den Hals, die verhindern, dass sie die erbeuteten Fische selbst fressen. Hat ein Kormoran etwas gefangen, zieht der Fischer ihn an Bord, der Vogel würgt den Fisch heraus und darf dann weiterjagen.
    Die Bestellung meines Essens gerät zur nächsten Prüfung. Ich bin nicht mehr in Shanghai, wo es englische Speisekarten gibt oder welche mit Fotos. «Nimen you shenme cai?» – Was habt ihr zu essen?, frage ich die Bedienung, ein junges, aufgeregtes Mädchen mit Pferdeschwanz und roten Backen. Sie zeigt auf die Karte mit den Hieroglyphen. «Das kann ich nicht lesen. Sag mir doch, was es gibt.» Ich will eigentlich verschiedene Gerichte genannt bekommen und bei ein oder zwei bekannt klingenden «stopp» sagen. Doch das begreift sie nicht: «Wir haben Gemüse und Fleisch.» Ich grinse sie ratlos an, denn das habe ich mir fast gedacht. Da rennt sie plötzlich weg. Zwei Minuten später ist sie wieder da, mit einem Tablett, auf dem ein Fisch, ein Hühnchen und verschiedene Gemüse liegen. Ich überlege, ob ich den Fisch nehmen soll, doch der ist ein bisschen teuer. «Gut», sage ich und tippe auf Hühnchen und Bohnen, «das nehme ich.» Tatsächlich kommt nach zehn Minuten ein halbes gekochtes Hühnchen, komplett mit Kralle unten dran, dazu ein Teller mit Bohnengemüse. Na also, wie habe ich das gemacht? Nach dem Hoteleinchecktest habe ich also auch den Essenbestelltest bestanden. Nur den Bruchteil einer Sekunde nach diesem Gedanken bin ich durchgefallen. Das aufgeregte Mädchen bringt auch noch den Fisch, so lang wie mein Unterarm und doppelt so dick. Wahrscheinlich hat sie nicht begriffen, dass ich ihn nicht mehr wollte. Ich protestiere: «Den habe ich nicht bestellt.» – «Doch», beharrt sie, und wir
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