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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch
Autoren: Michaela Seul
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spüren – dazu das Wummern aus den Autos, Blondinen mit Miniröcken und Eistüten, knackige Kerle mit Muscleshirts und blutigen Steaks.
    Ob er in der Stadt gewohnt hatte oder auf dem Land?
    Ich kannte ihn nicht, ich wusste nicht, ob ihm das alles fehlen würde, auch über dieses T-Shirt hatte ich mir noch keine eindeutige Meinung gebildet, ob es Humor zeigte oder Überheblichkeit, jedenfalls eine Portion Selbstbewusstsein,
und das gefiel mir. Mit einem solchen T-Shirt U-Bahn fahren, das wäre ein offensives Training für meine Selbstverteidigungskurse, eine Abschlussprüfung sozusagen. Der Tote hatte seine Abschlussprüfung nicht bestanden.
     
    Am Gasteig keiften sich zwei Autofahrer an. Z4 gegen A8. Ich hätte ihnen gern zugerufen, sie sollten sich lieber ihres Lebens freuen. Dass all die Leute gar nicht merkten, wie schön es war, am Leben zu sein – wahrscheinlich merkt man das erst, wenn man tot ist. Manchmal dachte ich auch an den Kommissar und wie er wohl seine Abendfreizeit gestaltete. Das dachte ich selbstredend in meiner Eigenschaft als verantwortungsvolle Bürgerin. Außerdem hätte ich gern gewusst, woran der Mann gestorben war. Irgendwie waren wir miteinander verbunden. Ob ich den Kommissar anrufen konnte, nach dem Motto: Ich wollte mich mal unverbindlich erkundigen? Im Fernsehen erfuhren Zeugen nie die Wahrheit, bloß die Zuschauer. Der Kommissar war lediglich ein Nebengeräusch in meinen Gedanken, weil ich dauernd an den Toten denken musste. Mein Kopf war schon ganz heißgelaufen; es hätte mich nicht gewundert, wenn ich eine Rauchwolke hinter mir hergezogen hätte.
     
    Zum Runterkühlen kaufte ich mir ein Eis und ging damit zur Brücke am Deutschen Museum. Die Steine in der Stadt hatten Hitze gespeichert wie die Felder auf dem Land, brotwarm strahlten sie den Eisheiligen entgegen. So wie all der Pärchenterror. Arm in Arm lief er die Isar entlang und über die Brücke, er tauschte Küsse und kicherte – morgen würden diensteifrige Hunde die hoffentlich zusammengeknoteten
Kondome apportieren – in den Auen. Ich schwang mich auf die Steinumfassung der Brücke.
    »Langsam. Sehr langsam. Vorsichtig. Und hopp!«, lud ich Flipper ein, sich neben mich zu setzen. Der Sprung war gefährlich, doch wir hatten ihn an niedrigen Mauern ohne Abgrund geübt. Souverän landete Flipper neben mir.
    »Gut gemacht«, lobte ich ihn.
    Er drehte den Kopf weg. Ich überlegte, ob so ein Kommentar für ihn überflüssig war wie der Applaus am Ende meiner Stunden. Und ob das Gut gemacht nicht eher mir galt. Weil ich meinen Stolz auf ihn zelebrierte. Eine heiße Woge Zuneigung für Flipper überschwappte mich. Fast hätte ich ihm etwas von meinem Eis gegeben, das habe ich erst zweimal gemacht, einmal an meinem Geburtstag, einmal an seinem Findeltag. Eine Handvoll Tauben pickte neben uns auf dem Trottoir nach irgendetwas. Zwei fanden sich wild flatternd zum Liebesspiel.
    Als ich die Autotür hinter mir hörte, wusste ich, für welches Filmgenre ich gecastet wurde.
    »Guten Abend!«
    Ich drehte mich nicht um. Auch Flipper schaute weiter geradeaus. Wir lassen uns nicht einschüchtern.
    »Dürfen wir Sie bitten, herunterzukommen«, jetzt stand einer der beiden Streifenpolizisten neben mir. Um mich anzusehen, musste er sich weit vorbeugen.
    »Wieso, ist das verboten?«
    »Es ist gefährlich«, sagte der zweite Polizist.
    »Ich sitze hier öfter«, erwiderte ich.
    »Der Hund könnte abstürzen.«
    »Der sitzt auch öfter da.«

    »Bitte machen Sie keine Schwierigkeiten, und kommen Sie runter.«
    »Ich mache keine Schwierigkeiten. Sie machen Schwierigkeiten«, stellte ich klar, während ich mich zu ihnen wandte und Flipper »Ab!«, befahl.
    Er vollbrachte das Kunststück, sich auf der schmalen Mauer umzudrehen, wie immer schlug mein Herz dabei schnell und ich war bereit, sofort zuzupacken. Flipper landete sicher auf dem Trottoir.
    »Toller Kerl«, sagte der eine Polizist, und der andere fragte: »Und wohin wollen Sie jetzt?«
    »Geht Sie das irgendwas an?«
    »Ich bin halt neugierig.«
    Das gefiel mir. Ich mag neugierige Menschen. Ein Beamter, der zugibt, neugierig zu sein, zeigt sich bürgernah, auch wenn es verdächtig nach Deeskalationsseminar klingt. Dieses Bestreben wollte ich gerne positiv unterstützen.
    »Ich bin auf dem Heimweg.«
    »Und wo wohnen Sie?«
    »Da vorne«, wies ich in Richtung Untergiesing, ein wenig zu gerade, denn eigentlich wohne ich in der Au, am Ende der Brücke, einmal rechts, einmal links.
    »Also
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