Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch
Autoren: Michaela Seul
Vom Netzwerk:
Spritze bekommen. Als wollte er das bestätigen, gähnte er, lief wie ein Betrunkener ein paar Schritte zickzack und ließ sich auf die Seite fallen. Ein tiefer Seufzer, dann war er eingeschlafen.
    »Flipper?«, flüsterte ich.
    Keine Reaktion. Ich musste ihn sofort zu einem Tierarzt bringen. Ich riss und biss meine Fußfessel ab, wobei mir meine Beweglichkeit in der Kopf-Knie-Stellung behilflich war,
und massierte meine tauben Beine. Vorsichtig untersuchte ich meinen Körper und dann den Raum. Das Atmen fiel mir schwer. Vielleicht eine Rippe geprellt. Keine Ahnung, wie das passiert war. Ich befand mich in einem kleinen Zimmer eines Dachbodens. Kein Fenster, eine Tür. Staubig, kühl, schmutzig. Keine Geräusche von draußen. Nur das Gurren um mich herum wie in einem Taubenschlag.
    Ich setzte mich zu Flipper. Meine Hand auf seinem Bauch. Spürte sein Herz. Es schlug langsam und kräftig. Flipper lebte. Wir waren zusammen. Ich sammelte Spucke in meinem Mund, um die Halsschmerzen zu lindern. Ich durchsuchte den Raum nach einer Waffe. Eine Axt, eine Stange, ein Spaten, egal, was. Nichts. Ich pinkelte in eine Ecke. So verging die Zeit. Oder auch nicht.
     
    Als ich die Schritte hörte, stellte ich mich neben die Tür. Flipper bemühte sich hochzukommen, ein wankender Greis. Auf ihn würde ich mich nicht verlassen können. Er gähnte ohne Unterlass, als wollte er sich jeden Moment zu einem Schläfchen zusammenrollen. Ich presste mich eng an die Wand. Ich dachte nichts. Später würde ich feststellen, dass das einer der wenigen Momente des absoluten Jetzt gewesen war. Als ich nichts dachte. Nur da war. Absolut präsent. Die Tür öffnete sich. Ich hatte damit gerechnet, dass er groß war, jedoch nicht so groß. Ich sprang in die Luft und drosch meinen Ellenbogen in die Maske. Ein knirschendes Schaben. Hoffentlich das Jochbein. Ein Wutschrei. Etwas fiel zu Boden, rollte polternd weg. Und dann standen wir uns gegenüber. Er, an die einsneunzig und mit viel Masse, und ich. David und Goliath. Er trug eine Faschingsmaske. Ein grinsendes
Gesicht, das mich irritierte, weil ich nichts ablesen konnte. Hochgezogene dicke schwarze Augenbrauen, ein breiter roter Mund bis zu den Backen, auf denen zwei grüne Punkte prangten. Am Hals des Clowns erschien eine dünne Blutspur. Er war sehr wütend. Das war mein Vorteil – Wut macht blind, und mein Nachteil – Wut macht stark. Keuchend stürmte er auf mich zu mit gespreizten Fingern. Ich ließ ihn nahe kommen, drehte ab, zog meinen rechten Fuß an und stieß einen Kick seitlich in seine Nieren. Leider nur in die Gegend. Ein unheimliches Geheule schwallte aus der Maske. Ich war zu langsam. Franza Mehlsack. Schwerfällig, tapsig – wie Flipper. Und spürte meine Rippen brennen. Und die Beine. Er packte mich am Hals. Ich zog die Schultern hoch. Setzte mit meinen Händen den Hebel an, sprengte seinen Griff und schlug mit der flachen Hand auf seine Nase. Ächzend ging er in die Knie. Er musste eine Tonne wiegen. Eric , dachte ich und platzierte einen Handkantenschlag an seine Schläfe. Er kippte seitlich weg. Mein Kampfschrei hallte von den Wänden in Flippers Bellen.
    »Raus! Schnell!«, rief ich ihm zu und riss die Tür auf. Gegen eine Tonne Masse hatte ich keine Chance, nur schnelle Beine konnten mich retten. Doch das war kein Ausgang. Hunderte von Tauben flatterten aufgeschreckt durch den Raum, durch das Dach, alles voller Tauben, flogen mir ins Gesicht, an den Körper, klatschten an die Holzwände, stürzten ab. Der blanke Horror. Flipper, statt sich zu retten, schnappte nur träge nach den Flügeln und bellte mit heiserer, müder Stimme. Ein Fangeisen um meine Fessel. Nein, eine Hand wie ein Schraubstock. Zog mich weg. »Flipper raus! Lauf!«

    Ich knallte mit dem Knie und dann mit der Brust, dem Kinn auf den Boden. Zwei Fußtritte in meine rechte Niere ließen mich mit einem dumpfen Laut zusammensacken. Eine blutige Hand ohrfeigte mich und riss mich an den Haaren hoch. Im Reflex schützte ich mein Gesicht und zog das Knie an. Er wich zurück. Die Maske war verrutscht. Ich sah eine Hälfte seines blutenden Gesichts. Ich kannte den Mann nicht. Ein paar Sekunden sahen wir uns in die Augen, mitten in dem Pulk der Tauben. Da sah ich es aufblitzen. Die Klinge war mindestens dreißig Zentimeter lang. Messerkampf , schoss es mir durch den Kopf. Sehr gefährlich. Zu gefährlich in meinem Zustand. Ich war verletzt. Das konnte ich nicht riskieren. Messerkampf sollte man überhaupt nie riskieren.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher