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Alle Rache Will Ewigkeit

Alle Rache Will Ewigkeit

Titel: Alle Rache Will Ewigkeit
Autoren: Val McDermid
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Menschen eingreifen zu können. Ich weiß, du kannst das nachvollziehen, auch wenn man dich im Moment davon abhält.
    Bis morgen.
    LKx

4
    Meine Mutter verschwand, als ich sechzehn war. Es war das Beste, was mir passieren konnte.
    Wenn ich das laut sage, schauen mich die Leute entsetzt an, als hätte ich ein unumstößliches Tabu gebrochen. Aber es ist wahr. Ich empfinde keinen versteckten, unterdrückten Kummer.
    Meine Mutter verschwand, als ich sechzehn war. Die Wärter hatten die Tür zu meinem Gefängnis offen stehen lassen. Und ich trat blinzelnd hinaus ins Sonnenlicht.
    Jay Stewart lehnte sich zurück und las, den Kopf nachdenklich zur Seite geneigt, was sie geschrieben hatte. Es bewirkte genau das, was es bewirken sollte, dachte sie. Es war fesselnd und verblüffend. Wenn man es vom Büchertisch mit Billigangeboten nahm und die ersten Sätze überflog, musste man einfach weiterlesen. Das war das Geheimnis, so brachte man Leser dazu, Geld auszugeben. Das zu verstehen war einfach, die Ausführung allerdings kompliziert. Aber schließlich hatte sie es schon einmal geschafft und würde es wieder schaffen.
    Als Jay beschlossen hatte, ihr erstes Buch zu schreiben, tat sie, was sie immer tat. Recherchieren, recherchieren, recherchieren. Das war der Schlüssel jedes erfolgreichen Unterfangens. Sich den Markt anschauen. Die Konkurrenz ins Auge fassen. Potenzielle Stolperfallen beachten. Dann loslegen.
Vorbereitung ist kein Vorwand für das Aufschieben.
Das stand auf einer ihrer wichtigsten Powerpoint-Folien. Sie war immer schon stolz darauf gewesen, sagen zu können, dass sie nie unüberlegt vorging.
    Aber neuerdings war bei ihr alles anders.
    Einen so grundsätzlichen Wandel hätte sie allerdings vor niemandem als sich selbst zugegeben. Als ihr Literaturagent sie vor einer Woche zum Mittagessen eingeladen und ihr verraten hatte, dass ihr Verleger sie mit einem neuen Projekt locken wolle, hatte sich Jay so betont vorsichtig und unverbindlich gegeben wie eh und je. »Ich dachte, die Wirtschaftskrise hätte dem ganzen Genre herzzerreißender Biographien den Garaus gemacht«, merkte sie an, als Jasper während der feinen Vorspeise aus Jakobsmuscheln an Mangosauce und zarten Zuckererbsen das Thema zur Sprache brachte. Während Jay auf Jaspers Antwort wartete, musterte sie kritisch ihren Teller. Wann war es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit geworden, in einem Restaurant ein einfaches, schmackhaftes Gericht zu bekommen?
    »Das stimmt ja«, strahlte Jasper, als sei er der Lehrer und Jay seine Lieblingsschülerin. »Gerade deshalb wünscht man sich etwas Unverfälschtes von dir. Triumph über Unglück und Schicksalsschläge – das wird gebraucht. Und du, meine Liebe, bist genau die richtige Galionsfigur für den Sieg über das Schicksal.«
    Er hatte recht. Jay konnte es nicht abstreiten. »Hm«, sagte sie, zerlegte eine Muschel und führte den Bissen geschickt auf der Gabel zum Mund. Damit hatte sie einen Vorwand, nichts weiter antworten zu müssen, bevor sie mehr gehört hatte.
    »Deine Geschichte ist packend und unterhaltend«, beharrte Jasper, und auf seinem hageren und argwöhnischen Gesicht erschien ein für ihn untypischer, herzlicher Zug. »Und sie macht den Menschen Mut. Die Leser können sich mit dir identifizieren, weil du nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren wurdest.«
    Jay schluckte, hob die Augenbrauen und grinste. »Die einzigen Silberlöffel meiner Kindheit waren bei uns zu Haus diese netten kleinen Kokslöffelchen, die die Freunde meiner Mutter am Kettchen um den Hals trugen. Aber aus der Ecke kommen meine Leser eher nicht.«
    Jasper setzte ein angespanntes, nüchternes Lächeln auf. »Wohl kaum. Aber dein Verlag hat bei Umfragen unter deinen Lesern herausgefunden, dass sie sich dir durchaus nahe fühlen. Sie haben das Gefühl, sie könnten in deinen Schuhen stecken, wenn die Dinge nur etwas anders gelaufen wären.«
    Mitnichten. Nicht in den wildesten Träumen.
»Es gibt Berührungspunkte«, antwortete Jay, ohne von ihrem Teller aufzuschauen. »Die Vorfälle in meinem Leben und die Lebensrealität der Leser berühren sich am Rande, und diese Verbindung lässt sie erschauern. Ich verstehe, wie das mit der Autobiographie meiner unglücklichen Kindheit funktionierte. Die Leser können sich gemütlich und selbstzufrieden in ihre Decke einkuscheln, denn sie mussten meinen Abstieg in die verschiedenen Kreise der Hölle nicht erleiden, in die meine Mutter mich in den ersten sechzehn Jahren meines
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