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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder'
Autoren: Melissa Fay Greene
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würde.
    Gerrida hatte der kleinen Familie über die Jahre immer wieder unter die Arme gegriffen, sagte sie, und auch viele andere aus dem Viertel hatten geholfen. Aber nun, da die Mutter von Mintesinot gestorben war, war es an der Zeit: Der Junge brauchte eine bessere Versorgung als die, die ihm sein obdachloser, todkranker Vater neben dem Rinnstein einer verkehrsreichen Straße, beinahe unter den Hufen von Ziegenherden und Eseln und vor aller Augen zuteil werden ließ.
    »Das Kind hat immer ein Lächeln auf dem Gesicht«, versicherte Gerrida mir auf Englisch. »Ein reizender Junge.«
    Ich fragte mich einen Moment lang, warum Gerrida den kleinen Jungen nicht nahm. Aber wenn seine Eltern tatsächlich dieser unaussprechlichen Krankheit zum Opfer gefallen waren, dann konnte sie es nicht. Das Stigma der Seuche haftete auch an den Waisen, Witwen und Witwern, so als steckten sie voller Keime und Bakterien.
    Wir schlängelten uns durch den Verkehr und fuhren über ampellose Kreuzungen, während vollgeladene Lastwagen, Busse und Taxis die Straßen entlangrasten, bremsten, schlingerten, stecken blieben und von herumstehenden Leuten, die auf ein kleines Almosen hofften, zum Ausweichen gezwungen wurden. Ein Grüppchen Esel, beladen mit grünen Zweigen, trottete durch den Verkehr, auf dem Mittelstreifen graste verträumt eine bucklige Kuh, als stünde sie im kniehohen Gras auf einer Wiese und ihr einzige Sorge wären die Wolken am Himmel.
    Auf ihrer ersten Reise nach Addis Abeba sagte meine vierundzwanzigjährige Tochter Molly Samuel: »Wenn ich jemals so viele Leute in den Straßen einer amerikanischen Stadt sähe, dann würde ich denken, dass sie vor einer Naturkatastrophe fliehen.« Es hatte aufgehört zu regnen, und zwischen den Wolken blitzte kalt die Sonne hervor. Ein Mann lief den Bürgersteig entlang und hielt dabei die Hinterläufe seiner Ziege in die Höhe; das Tier galoppierte so schnell es konnte auf seinen knochigen Vorderläufen, den Rumpf hoch in der Luft, so dass es aussah wie ein Schubkarren. Runzlige kleine Frauen mit Kopftüchern humpelten mit tief gebeugtem Rücken die Böschung hinunter, viel zu große Feuerholzbündel auf den Schultern. Frauen in hijabs (islamische Kopftücher) strömten über die vollen Bürgersteige, während andere in schicken Hosenanzügen auf hohen Absätzen um sie herumsteuerten. Männer jeden Alters, gute Freunde, gingen Hand in Hand die Straßen entlang; Polizisten, Gewehre auf dem Rücken, standen händchenhaltend auf ihrem Posten. Junge Fußballspieler in bunter Sportbekleidung riefen sich etwas zu; dann bahnte sich ein weißbärtiger, in ein langes Gewand gekleideter Mann mit seinem Knotenstock einen Weg durch die Menge, und er sah aus, als käme er geradewegs aus der biblischen Wüste.
    Ältere orthodoxe Äthiopierinnen in langen, weißen Kleidern und Tüchern schritten unter Schirmen mit langen roten oder goldenen Fransen einher, die aus glänzenden roten, grünen und lilafarbenen Stoffbahnen bestanden und mit Goldfäden durchwirkt und winzigen goldenen Ornamenten bedruckt waren. Die gläubigen Frauen öffneten ihre Schirme, um Gott zu danken, dass er ihre Gebete erhört hat. Marktstände boten bündelweise diese farbenprächtigen Schirme an, auf denen die Sonne glitzerte wie von Glasscherben reflektiert.
    »Wozu die vielen Schirme?«, fragte ich Selamneh auf meiner ersten Reise nach Äthiopien im Jahr 2001.
    »Das sind...«, setzte er an. »Sind das nicht... die Schirme aus der Bibel?«
    » Schirme ? Aus der Bibel ?«
    »Ja.«
    »Welche Schirme aus der Bibel?«
    »Ich weiß nicht.«
    An diesem Abend schickte ich meiner Familie in Amerika von einem Internetcafé aus eine Mail mit der Frage: »Kommen in der Bibel Schirme vor?«
    Am nächsten Tag antwortete mir mein siebzehnjähriger Sohn Seth Samuel: »Mom, es hat doch immerhin vierzig Tage und vierzig Nächte geregnet.«
    Und ein paar Tage später erinnerte sich Selamneh: »Als König Salomon die Bundeslade nach Jerusalem brachte, schützten die Menschen sie mit Schirmen.«
    »Oh«, sagte ich. Und warum heben und drehen ältere Frauen in langen weißen Kleidern, während sie vorsichtig am Rand von Straßen, auf denen sich Autos, Vieh und Menschen drängen, durch den Schlamm waten, ihre Schirme in der Luft und lassen sie wie Drachen im Wind flattern, wenn nicht aus Freude an dem prächtigen Farbenspiel? Und warum heben an dem orthodoxen Feiertag Timket, an dem das Epiphaniefest begangen wird, die Geistlichen Schirme in die
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