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Alissa 1 - Die erste Wahrheit

Alissa 1 - Die erste Wahrheit

Titel: Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Autoren: Dawn Cook
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vergessen.
    Ein hoher, unheimlicher Klagelaut von Kralle zerriss die Nacht, und mit einem hässlichen Dudeln entglitt die Flöte Alissas Lippen. Erstaunt starrte sie ihren Falken an. Der Vogel war angespannt und wachsam und blickte mit schräg geneigtem Kopf zu den Sternen auf, mit einem so unheimlichen Ausdruck wie im vergangenen Frühjahr, als er Alissa und ihre Mutter vor dem plötzlichen Wirbelsturm gewarnt hatte. Alissa kam zu dem Schluss, dass das Echo ihn wohl beunruhigte; sie lachte leise und lehnte sich zurück. Aber irgendetwas stimmte nicht. Aus dem Tal drang immer noch Musik herauf.
    Zischend stieß sie den Atem aus. Das war kein Echo. Da ahmte sie jemand nach!
    Der Wind frischte auf, zerzauste Kralles Gefieder und wirbelte die Glut an den Rändern ihres Feuers auf. Mit hämmerndem Herzen spähte sie in die Nacht und suchte nach dem flackernden Schein eines Feuers unten im Tal. Kralles Blick hingegen war gen Himmel gerichtet. Die Melodie setzte sich fort, unirdisch und verstörend. Nun, da Alissa zu spielen aufgehört hatte, wurde diese andere Melodie immer komplexer, bis sie sie kaum wiedererkannte. Schwach drang sie durch die Dunkelheit und klang viel besser; gespenstisch stiegen die Töne vom Tal herauf.
    Das Konzert der Grillen verstummte so plötzlich, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Alissa schnappte nach Luft und bekam eine Gänsehaut. Kralles Kopf drehte sich in einem engen Bogen, und dann, geleitet von einem dumpfen Sausen in der Luft, sah Alissa es auch. Ein gewaltiger Schatten bildete eine unverkennbare Silhouette vor dem Sternenhimmel.
    Bei des Navigators Hunden, das ist ein Raku!, dachte sie entsetzt. Sie zügelte ihren ersten, tödlichen Impuls, in den Wald zu rennen, und verkroch sich unter ihrer Decke. Sie wagte kaum zu atmen, während sie beobachtete, wie das Ungeheuer anmutig kreiste, wendete und sich ins Tal hinabstürzte. Asche, dachte Alissa voller Furcht und Staunen. Das Vieh war größer als sechs Pferde. Allein sein prächtiger Schwanz war dicker als sie. Es hieß, sie hätten mächtige Flanken, Klauen so lang wie ihr Arm, Zähne wie Glassplitter und Haut so zäh wie Schlangenleder. All das war nur Hörensagen. Niemand, der einem Raku nah genug gekommen war, um diese Geschichten bestätigen zu können, war je in eine menschliche Siedlung zurückgekehrt. Drei Herzschläge später brach die Musik dort unten mit einem überraschten Quäken ab.
    Alissa zwang sich, sich zu bewegen, ihre verkrampften Finger von der Flöte zu lösen und sie in ihre innere Manteltasche zu schieben. Tapfer ignorierte sie das Zittern ihrer Hände und legte Holz nach, bis das Licht so stark war wie von einem lodernden Leuchtfeuer. Sie hatte irgendwo gehört, dass Rakus kein Feuer mochten. Das erschien ihr immerhin wahrscheinlich. Alissa hatte gewusst, dass es hier Rakus geben könnte – schließlich war sie in den Bergen, dem beliebtesten Jagdrevier der Ungeheuer –, aber sie hatte noch nie einen gesehen.
    Vor nicht allzu langer Zeit galten sie noch als alltägliche Gefahr für die Bauern im Vorgebirge. Wenn ein Schaf verloren ging, gab man sogar jetzt noch den Jägern mit den ledrigen Schwingen die Schuld daran, und niemals dem Dieb, der es sich wahrscheinlich geholt hatte. Ihr Papa hatte behauptet, Rakus seien einst so alltäglich und gewöhnlich gewesen wie Bettler am Markttag, und dass er sich mit einem von ihnen sogar oft lange unterhalten habe. Das, so dachte Alissa stirnrunzelnd, war Unsinn. Jeder wusste, dass Rakus nur aus Flügeln und einem gewaltigen Appetit bestanden.
    Die Bestie war ins Tal hinabgestoßen, doch wenn sie nicht schwimmen gehen wollte, konnte sie dort nirgends landen. Vermutlich war sie also schon weg – eine Vermutung, in die Alissa große Hoffnung setzte. Sie war größer als ein Schaf, aber Rakus waren nicht gerade dafür bekannt, wählerisch zu sein, was ihre Mahlzeiten anging. Sie waren die am meisten gefürchteten Raubtiere in den Bergen, die man für das Verschwinden zahlloser Reisender verantwortlich machte.
    Alissa rückte ihre Matte ein Stück näher an Kralle heran und versuchte zu schlafen; auf die Deckung der Kiefern verzichtete sie, denn das Feuer schien ihr größere Sicherheit zu versprechen. Die Grillen hatten ihr Konzert in voller Besetzung wieder aufgenommen, und der Griff ihres kleinen Falken um den Ast war lockerer. Kralles Gefieder war schon für den Schlaf aufgeplustert, und sie würdigte den Himmel keines Blickes mehr. Ihr Vogel, das wusste Alissa,
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