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Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX
Autoren: Joel Ross
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Wahrheit war das Fundament, auf dem das ganze Lügengerüst errichtet wurde. Sie war das Sandkorn, um das sich die unschätzbare Perle bildete – und wie ein Sandkorn sorgte die Wahrheit für Irritationen. Man wusste sie zu handhaben, bekam sie aber nie ganz unter Kontrolle. Dennoch, die Abwehr überprüfte diese Zuchtperle und stufte sie als echt ein. Sie hielt Sleet für loyal und handelte gemäß seinen Berichten. Das Doppelspiel war erfolgreich – jedenfalls im Moment. Das Umdrehen eines Agenten war eine heikle Angelegenheit. Im besten Fall war es eine Verführung: vertraulich, behutsam, leidenschaftlich. Im schlimmsten Fall eine Vergewaltigung. Sleet, verführt und als loyal erachtet, wurde mit einem MI6-Agenten, der als Mitglied der Welsh Nationalist Party auftrat, nach Antwerpen geschickt. Man gab ihnen Kontaktinformationen für »Thrush«, eine in Deutschland geborene, in Großbritannien lebende Fotografin, die bei der Entwicklung von Mikrofotografien helfen würde – Bilder in der Größe von Briefmarken oder noch kleiner, mit denen Informationen übermittelt wurden. Thrush, obwohl durch Drohungen erpresst, die sich gegen ihre Neffen in Deutschland richteten, ließ sich leicht umdrehen. Danach kam »Bitters« – ein vormaliger Drogenschmuggler und Gauner, den Sleet als Agenten rekrutierte, der in Deutschland ausgebildet werden sollte. Bitters stürzte sich auf die Spionage wie der Wurm auf den Morast und erfuhr kurz darauf von drei weiteren deutschen Agenten, die über England abspringen sollten. Zwei von ihnen ließen sich umdrehen und blieben am Leben. Einer weigerte sich und wurde gehängt. So nahmen die Dinge ihren Lauf. Ein Agent führte zum nächsten und zum nächsten und wieder zum nächsten, so dass Ende 1941 das gesamte Netz der Abwehr in England von den Briten geleitet wurde.
    Es war ein Doppelspiel von monumentalem Ausmaß; die Deutschen, die die Briten aufs Kreuz legen wollten, wurden von ihnen selbst aufs Kreuz gelegt. Ein doppeltes Kreuz: XX. Das Zwanziger-Komitee. Damit beauftragt, ein Lügengespinst zu entwerfen, das in sich so stimmig und überzeugend war, damit die Nazis niemals dahinterkamen, dass sie ihr eigenes Agentennetz nicht im Griff hatten.
     

5
 
1. Dezember 1941, Morgen
    Earl war fort. Tom nahm das gerahmte Bild vom Schreibtisch. Earl hatte sandfarben-blondes Haar, helle Augen, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Einen Arm hatte er fest um seine Frau geschlungen, den anderen zu einer überschwänglichen Willkommensgeste erhoben. Seine Frau: Sie hielt den Kopf leicht abgewandt und nach unten geneigt, scharf zeichnete sich der Schatten ihres Kiefers vor dem blassen Gesicht ab. Das Bild krachte gegen die Wand, Glassplitter fielen zu Boden.
    Tom hörte Männer im Flur. Sie kamen seinetwegen. Es gab nur eine Tür, das Fenster war vergittert. Es war keine Zeit mehr. Earl war fort.
    Er trat in den Flur. Zwei Männer zu seiner Rechten, drei Männer fünf Meter zu seiner Linken. Er öffnete die Tür zu Bloomgaards Vorzimmer. Das Mädchen saß hinter seinem Schreibtisch, Bloomgaard stand daneben. Bloomgaard sagte etwas. Tom hob den Arm, und Bloomgaard wich zurück. Tom ging ins Büro mit der blutroten Blume und der grünen Glasvase. Er verriegelte die Tür und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Dort war das Telefon. Der Schreibtisch und der Schreibtischstuhl. Auch dieses Fenster war vergittert. Tom hörte die Männer ins Vorzimmer eindringen und mit Bloomgaard sprechen. Er musste weg, musste Earl finden. Er konnte nicht mehr denken. Er musste es mit Burnham Chase versuchen. Er ging zwischen Tür und Schreibtisch auf und ab. Dort war das Bücherregal, die hohe Decke …
    »Mr. Wall?« Eine Männerstimme drang durch die Tür. Er sagte, er heiße Knudson. Er sagte, er habe einen Schlüssel. Er sagte, es werde nichts Schlimmes passieren, und er werde jetzt die Tür öffnen, und Tom solle sich keine Sorgen machen. Bald wäre alles vorbei, und alles wäre wieder Friede, Freude, Eierkuchen.
    Das Schloss schnappte auf, und die Männer stürmten herein – eine unüberwindliche Wand.
     
    Als Nächstes erschien in Davies-Franks schäbigem Raum ein alter Patient, dem Wall anscheinend gewisse Sympathien entgegengebracht hatte. Captain Bayliss war ein zahnloses, verschrumpeltes Männlein, dessen Geist umnebelt und dessen Worte nahezu unverständlich waren. Davies-Frank erwärmte sich für Wall, weil er sich dieses alten Mannes angenommen hatte, konnte es sich aber nicht leisten, den
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