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Albtraum

Albtraum

Titel: Albtraum
Autoren: E Spindler
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nickte, brachte dem Tisch Ketschup, einem anderen die Rechnung und einem dritten die Baguettes. Danach suchte sie das Klo auf. Das musste sie in letzter Zeit häufiger. Als sie die kleine Toilettenkabine verließ, blieb sie wie angewurzelt stehen. Eine Frau mit langem zimtfarbenem Haar stand vor dem Spiegel und legte Lippenstift auf.
    Julianna schloss die Augen, und ihre Gedanken wanderten vierzehn Jahre zurück …
    Ihre Mutter saß in BH, Slip und Strumpfgürtel vor der Frisierkommode. Julianna stand in der Tür und beobachtete, wie ihre Mutter sich vorbeugte und Lippenstift auflegte. Sie zog die Konturen der Lippen nach und presste sie zusammen, um die Farbe zu verteilen.
    Julianna war voller Bewunderung und Ehrfurcht. „Du bist so hübsch, Mama“, flüsterte sie selbstvergessen.
    Ihre Mutter drehte sich lächelnd um. „Danke, Liebes. Aber denk dran, bei deiner Mama heißt das schön. Du bist hübsch, deine Mama ist schön.“
    Julianna senkte den Kopf. „Tut mir Leid.“
    „Schon in Ordnung, Süße. Denk nur das nächste Mal daran.“
    Julianna nickte und kam vorsichtig näher, nicht sicher, ob sie willkommen war. Da ihre Mutter nichts einwandte, setzte sie sich vorsichtig auf das satinbezogene Bett und gab Acht, ihr Kleid nicht zu verknittern.
    Sie glättete die weiße Schürze und betrachtete ihre makellosen schwarzen Lackschuhe. Ihre Mutter hatte so viele Regeln für sie aufgestellt, dass es für eine Fünfjährige oft schwer war, alle zu befolgen. Doch eines wusste sie: zerknitterte, schmutzige Kleidung zog rasch Tadel und Strafe nach sich. Besonders, wenn Besuch erwartet wurde.
    „Wer kommt heute Abend?“ fragte sie und widerstand der Versuchung, die Füße aneinander zu reiben, obwohl ihr das Quietschen des Leders gefiel. „Onkel Paxton?“
    „Nein.“ Ihre Mutter nahm einen Strumpf aus der Schachtel auf der Frisierkommode. „Jemand Besonderes.“ Sie zog das seidige Material vorsichtig an ihrem Bein hinauf. „Jemand ganz Besonderes.“
    „Wie heißt er?“
    „John Powers“, erwiderte ihre Mutter leise, dabei wirkte ihre Miene sanft und verzaubert. „Ich habe ihn letzte Woche auf einer Party hier in der Hauptstadt kennen gelernt. Ich habe dir davon erzählt.“
    „Wo es die Sandwiches in der Form von Schwänen gab?“
    „Canapés. Ja, richtig.“
    Julianna neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihre Mutter. Er muss wirklich was Besonderes sein, dachte sie, noch nie hat Mama ein solches Gesicht gemacht, wenn sie von einem Gast sprach.
    „Ich erwarte, dass du dich tadellos benimmst.“
    „Ja, Mama.“
    „Wenn du ein wirklich braves Mädchen bist, kaufe ich dir vielleicht die Puppe, die du dir gewünscht hast. Die mit den gleichen langen braunen Locken, wie du sie hast.“
    Julianna wusste, was ihre Mutter mit wirklich brav meinte. Es bedeutete, dass sie still zu sein hatte, entgegenkommend und scharmant. Wirklich brav zu sein wurde belohnt, nicht nur von ihrer Mutter, sondern auch von ihren Gentlemen-Freunden. Sie schenkten ihr Süßigkeiten und kleine Spielsachen, nannten sie hinreißend, süß und hübsch.
    Und dann schickte Mama sie auf ihr Zimmer.
    Julianna hoffte, dass sie eines Tages, wenn sie wirklich brav und scharmant gewesen war, nicht mehr aus dem Zimmer geschickt wurde. Irgendwann, wenn sie älter war, würde sie auch ganz besondere Besucher haben.
    „Ich bin brav, Mama. Ich verspreche es.“
    „Lauf jetzt, ich muss mich fertig machen. John wird jeden Moment kommen.“
    „Miss? Alles in Ordnung mit Ihnen?“
    Blinzelnd schreckte Julianna aus ihrer Träumerei auf. „Was?“
    „Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Die Frau am Spiegel steckte ihren Lippenstift wieder ein. „Sie haben mich so merkwürdig angesehen, als wäre Ihnen ein Geist erschienen oder so.“
    Julianna blinzelte wieder und sah die Frau erst jetzt richtig. Sie hatte raue, narbige Haut, und ihr rötliches Haar verdankte seine Farbe einer Flasche Chemie. Und keiner guten.
    Wie habe ich nur glauben können, sie sähe meiner Mutter ähnlich?
    „Danke, es geht mir gut“, erwiderte sie leise, ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. „Ich weiß nicht genau, was mit mir los ist.“
    Die Frau tätschelte ihr lächelnd den Arm. „Ich habe selbst sechs Kinder. Die Hormone machen einen ganz schön fertig. Aber es wird besser. Später machen einen dann allerdings die Kinder fertig.“ Sie tätschelte ihr noch einmal kichernd den Arm und ging hinaus.
    Julianna starrte ihr verunsichert nach. Die Erinnerung war
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