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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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komme zurück.«
    »Ich meine nur, wenn du nicht anrufst … ein glückliches neues Jahr.« Kurz nach elf rief ich Agnes an.
    »Du bist viel zu früh«, sagte sie.
    »Ich wollte es nicht vergessen. Was machst du?«
    »Ich esse etwas. Ich habe mir die Feier in New York angeschaut. Dort hat das neue Jahr schon begonnen.«
    »Ja.«
    »Du fehlst mir.«
    »Geh schlafen. Und wenn du aufwachst, bin ich wieder da.«
    Louise stand neben mir, während ich telefonierte. Sie lächelte ironisch.
    »Vermißt dich deine kleine Freundin?« fragte sie, als ich aufgelegt hatte.
    »Sie ist krank.«
    »Amerikanerinnen sind immer krank, aber sie sind nicht umzubringen. Sie sorgen dafür, daß du immer ein schlechtes Gewissen hast. Und wenn sie mit einem Mann schlafen, dann reden sie nachher darüber, als hätten sie ihm einen Dienst erwiesen. Als seien sie mit ihrem Hund spazierengegangen. Weil der Hund Bewegung braucht.«
    »Agnes ist anders.«
    »Glaub es«, sagte Louise. Sie hakte sich bei mir ein und stellte mich einigen Gästen vor. Sie lächelte alle an und sprach mit jedem ein paar Worte, aber kaum waren wir allein, erzählte sie mir, welcher der Männer sich schon an sie herangemacht und wer wen mit wem betrogen hatte.
    »Warum wohnst du eigentlich noch bei deinen Eltern, wenn dich ihre Gesellschaft so anwidert?« fragte ich.
    »Oh, die sind schon in Ordnung. Sie widern mich nicht an.«
    »Aber warum nimmst du dir nicht eine Wohnung und lädst deine eigenen Freunde ein?«
    »Ich wäre schon längst nach Frankreich zurückgegangen. Aber ich habe eine gute Stelle hier. Und eigentlich ist es mir egal, wo ich wohne.« Außerdem, sagte sie, habe ihr Appartement einen eigenen Eingang, und sie könne kommen und gehen, wie sie wolle. »Und warum hast du keinen deiner Freunde eingeladen?«
    »Warum sollte ich? Ich habe ja dich!«
    »Hast du überhaupt Freunde hier?«
    »Ich habe mich immer besser mit Männern als mit Frauen verstanden. Und mehr als einen Mann auf einmal mag ich nicht einladen. Ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.«
    Ich trank ziemlich viel und sprach den ganzen Abend über nur mit Louise. Ihre Mutter zwinkerte mir ein paarmal zu, und einmal legte ihr Vater mir den Arm um die Schulter und fragte, ob ich mich gut amüsiere. Ich dankte für die Einladung, und er sagte, er freue sich, daß ich habe kommen können. Er fragte mich, was ich über den Pullman-Streik herausgefunden habe. »Ich glaube, die Rolle, die das Geld spielte, wird überschätzt«, sagte ich. »Es ging um die Freiheit. Pullman war ein Patriarch, und der Streik war vielmehr eine Revolte gegen die absolute Kontrolle, gegen die Macht, als gegen die wirtschaftliche Ausbeutung.«
    »In der Revolution geht es immer nur um Macht. Und die Macht hat, wer das Geld hat.«
    »Aber selbst ohne die Depression wäre es irgendwann zum Zusammenbruch gekommen. Auch wenn die Löhne nicht gesenkt worden und die Preise nicht gestiegen wären.«
    »Glauben Sie mir, es ging ums Geld und um nichts anderes«, sagte Louises Vater und nahm den Arm von meiner Schulter. »Ihr Schriftsteller denkt immer viel zu weit. Ich bin Geschäftsmann. Ich weiß, was die Welt bewegt.«
    Als ich wieder mit Louise allein war, sagte sie: »Du solltest mit meinem Vater nicht über Politik diskutieren. Was interessiert dich diese Pullman-Geschichte überhaupt? Das ist ja alles schon längst vorbei und vergessen.«
    Ich sagte, heute geschehe in globalem Ausmaß dasselbe wie vor hundert Jahren in Pullmans Musterstadt, und das werde über kurz oder lang zu Unruhen führen.
    Louise winkte ab. »Komm, wir gehen in mein Appartement«, sagte sie. »Heute nacht findet die Revolution noch nicht statt. Es sind sowieso alle betrunken.«
    Sie holte aus der Küche eine Flasche Champagner, und ich folgte ihr die breite Treppe hinauf in ihre kleine Wohnung. Sie schloß die Tür hinter uns ab.

34
    Es war drei oder vier Uhr, als ich die Party als einer der letzten verließ. Louise bestand darauf, mich nach Hause zu bringen.
    »Um diese Zeit dauert es eine Ewigkeit, bis du ein Taxi kriegst«, sagte sie.
    Es war nicht weit bis ins Zentrum. In der Beaubien Street, einer kleinen Einbahnstraße direkt hinter dem Doral Plaza, hielt sie den Wagen an.
    »Ich küsse meine Männer nicht auf der Michigan Avenue«, sagte sie.
    »Agnes ist wieder da.«
    »Das fällt dir etwas spät ein.«
    »Du liebst mich nicht.«
    »Und sie schläft nicht mehr mit dir«, sagte Louise, lehnte sich über die automatische Schaltung und
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