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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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Name war von Hand eingetragen. Auf die Rückseite hatte Louise geschrieben: »Komm, wenn Du kannst. Bring Deine Agnes mit, wenn Du Lust hast. Viele interessante Leute!«
    »Hast du ihr von mir erzählt?« fragte Agnes.
    »Nur, daß du mich verlassen hast, und dann, daß du wieder zurückgekommen bist.«
    » Du hast mich verlassen. Und du bist zurückgekommen.«
    »Eigentlich ist Weihnachten ein schrecklich deprimierendes Fest«, sagte ich.
    »Ein Fest für Kinder.«
    »Komm«, sagte ich, »wir gehen aufs Dach.«
    Oben auf dem Dach war es eiskalt. Der böige Wind nahm uns fast den Atem, und wir drückten uns an den kleinen Aufbau mit den Fahrstuhlmotoren. Diesmal sahen wir die Sterne, sehr viele Sterne, man hatte den Eindruck, der ganze Himmel bestehe nur aus Sternen. Ich erkannte die Milchstraße, und Agnes zeigte mir den Schwan und den Adler.
    »Ich habe nicht gewußt, daß du dich mit Sternen auskennst«, sagte ich.
    »Was weißt du überhaupt von mir?« sagte Agnes, aber es klang nicht bitter.
    Sie lehnte sich an mich, und ich küßte sie aufs Haar. Wir standen lange so auf dem Dach, ohne zu sprechen, und schauten in den Himmel. Dann hörten wir aus der Tiefe eine Sirene und gingen trotz des Windes an die Brüstung und schauten hinunter in die Straßen. Wir sahen einen Krankenwagen und kurz darauf ein Polizeiauto, das in dieselbe Richtung fuhr.
    »Irgendwo ist etwas passiert«, sagte Agnes.
    »Manchmal versuche ich, mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich ein anderer Mensch wäre, zum Beispiel der Ambulanzfahrer«, sagte ich. »Was ich dann sehen würde.«
    »Wenn am Heiligabend so etwas geschieht, denkt man immer, es sei besonders schlimm. Als ob das eine Rolle spielt.«
    »Wir denken, wir leben in einer einzigen Welt. Dabei bewegt sich jeder in seinem eigenen Stollensystem, sieht nicht rechts und links und baut nur sein Leben ab und versperrt sich mit dem Schutt den Rückweg.«
    »Komm, wir gehen hinunter. Mir ist kalt.«
    Als wir wieder in die Wohnung kamen, waren wir völlig durchfroren. Ich nahm ein Bad. Agnes kam ins Badezimmer. Sie zog sich aus und stieg zu mir in die Wanne. Sie setzte sich mit dem Rücken gegen mich, und ich umarmte sie. Dann wusch ich ihr den Rücken, und später wechselten wir die Plätze, und sie wusch meinen Rücken. Wir badeten lange und ließen immer wieder heißes Wasser nachlaufen. Dann trockneten wir uns gegenseitig ab, und ich frottierte und kämmte Agnes’ Haar. Im Schlafzimmer machte Agnes das Licht aus, und wir schliefen miteinander.
    »Das war ein Geschenk«, sagte sie, als wir später nebeneinander auf dem Bett lagen.
    »Wie meinst du das?«
    »Es ist Weihnachten.«
    »Ich will nicht, daß du mit mir schläfst, wenn du nicht magst.«
    »Aber es war ein Geschenk.«
    »Vielen Dank«, sagte ich und wandte mich ab.
    Agnes schwieg.
    »Siehst du Louise noch?« fragte sie später.
    »In der Bibliothek. Ich kann nichts dagegen tun.«
    »Möchtest du etwas dagegen tun?«
    »Es ist nichts mehr zwischen uns.«
    »Und was war zwischen euch?«
    »Nichts«, sagte ich. »Ich habe ihr gesagt, du seist zurückgekommen.«
    » Du bist zurückgekommen.«
    »Sie weiß viel über Pullman, und ich komme durch sie mit interessanten Leuten in Kontakt.«
    »Das ist doch toll.«
    »Ja.«
    »Hast du mit ihr geschlafen?« fragte Agnes.
    »Ist das wichtig?«
    »Ja.«
    »Und du mit Herbert?«
    »Nein.«
    »Warum wolltest du zu ihm gehen mit dem Kind?«
    »Weil er für mich da ist. Und weil er mich liebt.«
    »Und warum bist du zu mir zurückgekommen?«
    »Wenn du das nicht weißt …«, sagte Agnes. »Weil ich dich liebe, nur dich. Auch wenn du es nicht glauben willst.«

30
    Am nächsten Tag war Agnes erkältet.
    »Das Dach tut dir nicht gut«, sagte ich.
    Sie blieb den ganzen Tag über im Bett und las, und ich saß im Wohnzimmer und schaute fern. Am Nachmittag ging ich kurz nach draußen, um frisches Brot zu kaufen. Den Laden unten im Haus mied ich seit Wochen. Draußen schneite es heftig, und der Wind trieb mir die Flocken waagerecht ins Gesicht. Als ich in die Wohnung zurückkam, saß Agnes mit gekreuzten Beinen im Bett. Die Decke war ihr über die Knie geglitten. Sie weinte.
    »Du mußt dich zudecken«, sagte ich. »Was hast du?«
    Die Norton Anthology lag aufgeschlagen in ihrem Schoß, und sie zeigte auf ein Gedicht. A Refusal to Mourn the Death, by Fire, of a Child in London von Dylan Thomas.
    Deep with the first dead lies Londons daughter,
    Robed in the long friends,
    The grains beyond age, the
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