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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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mit Weihnachtsliedern geschenkt, die sie dauernd hörte, obwohl sie fand, die Musik sei schrecklich und nur ein Europäer könne etwas so Kitschiges kaufen. Wenn ich abends von der Bibliothek nach Hause kam, küßte sie mich kurz auf den Mund. Dann hatte sie oft Kerzen angezündet. Sie sagte, sie denke viel an ihre Kindheit, aber sie erzählte nicht mehr davon. Sie fragte mich nach den Weihnachtsbräuchen in meiner Heimat. Wir backten Lebkuchen, die nicht richtig schmeckten, weil uns die wichtigsten Gewürze fehlten, und ich bastelte Agnes einen Adventskranz aus Zeitungen und Tannenzweigen.
    »Eigentlich ist es zu spät«, sagte ich.
    »Das macht nichts«, sagte sie.
    Im Bett wandte sich Agnes oft von mir ab und schlief zusammengekauert und ganz auf ihrer Seite. Wenn sie duschte, schloß sie jetzt die Tür wieder ab und zog sich im Badezimmer aus wie in den ersten Wochen, als wir zusammen waren. Aber ich dachte, das werde sich legen und alles würde gut werden.
    Agnes war aktiv wie selten zuvor. Sie trieb viel Sport, ging schwimmen und wurde Mitglied in einem Fitneßclub. Sie ging wieder regelmäßig zu den Proben des Streichquartetts, besuchte ihre Kolleginnen in der Universität und brachte Arbeit mit nach Hause. Sie hatte neue Diapositive von Kristallgittern bekommen und saß am Fenster, um sie im Gegenlicht zu betrachten.
    »Man hat schon lange gewußt, daß sie so aussehen. Lange bevor man es experimentell bestätigen konnte. Theoretisch kann man jeden Kristall – außer wenn er triklin-asymmetrisch gebaut ist – durch Symmetrieoperationen mit sich selbst zur Deckung bringen.«
    »Wie entstehen sie?« fragte ich.
    »Durch die Wechselwirkungen zwischen den Atomen und Molekülen. Jedes Teilchen hat seinen genau festgelegten Platz im Verhältnis zu den anderen. Aber ideale Kristalle sind sehr selten. In der Praxis gibt es immer Fehlordnungen und Gitterbaufehler.«
    Einmal kam Agnes mit mir an den See, und wir nahmen altes Brot mit für die Vögel. Als die Geschäfte geschlossen hatten, spazierten wir durch die Innenstadt und schauten uns die Auslagen an. Ich hatte gefürchtet, die Kindersachen, die wir sehen würden, könnten Agnes aufregen, aber sie blieb ruhig. Als ich sie danach fragte, sagte sie nur: »Ich kann ja jederzeit Kinder kriegen.«
    »Möchtest du ein Kind?«
    »Vielleicht. Irgendwann.«
    Als wir nach Hause zurückkamen, sagte Agnes: »Die Wohnung muß dringend geputzt werden. Zu Weihnachten muß alles sauber sein.«
    »Wir haben keine Gäste.«
    »Das spielt keine Rolle. Wir putzen für uns. Du hast ja überhaupt nichts gemacht, während ich weg war.«
    Wir putzten den ganzen Abend.
    »Du hast noch weniger Sachen als ich«, sagte Agnes, als wir endlich fertig waren.
    »Aber das ist nur ein kleiner Teil. Das meiste habe ich in der Schweiz gelassen. Möbel, Kleider und vor allem Bücher.«
    »Ich vergesse immer, daß du hier nur zu Besuch bist.«
    »Ich könnte auch bleiben. Oder du könntest mit mir kommen.«
    »Ja. Vielleicht. Ein happy ending für deine Geschichte.«
    »Für unsere Geschichte.«

29
    Wir feierten Heiligabend. Ich hatte Agnes schon seit einiger Zeit nicht mehr gezeigt, was ich geschrieben hatte. Jetzt hatte ich die Geschichte auf weißes Papier ausgedruckt, gefaltet und, mit einer Widmung versehen, in eine Mappe gelegt.
    »Ich habe noch keinen Schluß gefunden«, sagte ich, »aber sobald ich ihn habe, binde ich dir alles zu einem kleinen Buch.«
    Agnes hatte mir einen Pullover gestrickt.
    »Wolle hatte ich ja genug«, sagte sie.
    »Schwarze Wolle?«
    »Nein. Ich habe den Pullover gefärbt. Hellblau steht dir nicht.«
    Ich schwieg. Wir saßen auf dem Sofa, vor uns einen kleinen Weihnachtsbaum, den Agnes nur mit Kerzen geschmückt hatte. Aus einer der benachbarten Wohnungen hörten wir leise Weihnachtslieder und streitende Kinder, dann eine tiefere Stimme, die etwas schrie. Plötzlich wurde es ruhig.
    »Verzeih«, sagte ich, »ich habe nicht daran gedacht.«
    »Heute morgen ist ein Paket mit UPS für dich gekommen. Ich habe gedacht, es ist ein Geschenk, darum habe ich nichts gesagt.«
    Ich erkannte gleich die Schrift.
    »Es ist von Louise.«
    »Mach es auf.«
    Im Paket war das Modell eines Pullman-Salonwagens. Es war ein wunderschöner, exakter Nachbau. Hinter den Scheiben sah man kleine Figuren, die an Tischen saßen.
    »Hier ist eine Karte«, sagte Agnes, »sie lädt dich zu ihrer Neujahrsparty ein.«
    Die Karte war von Louises Eltern. Es war eine gedruckte Einladung, und nur mein
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