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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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Egoismus genannt hatten.
    Ich ging nicht an diesem Tag zu Agnes und auch am nächsten nicht. Am dritten Tag endlich entschloß ich mich, sie zu besuchen. Ich nahm gegen meine Gewohnheit ein Taxi, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Vor einer Buchhandlung ließ ich es warten, rannte hinein und fragte nach einem Buch über Babys. Die Verkäuferin empfahl mir ein Buch mit dem Titel How to Survive the First Two Years .

25
    Agnes kam im Morgenmantel an die Tür. Sie war sehr bleich. Sie bat mich herein, und ich folgte ihr ins Zimmer. Sie legte sich wieder hin. Ich saß eine Weile stumm bei ihr, dann fragte ich: »Du bist krank?«
    »Ich habe das Kind verloren«, sagte sie leise.
    Ich hatte nie daran gedacht, daß sie das Kind verlieren könnte. Ich war erleichtert und schämte mich dafür. Agnes lächelte und sagte: »Du solltest eigentlich froh sein.« Aber der Zynismus gelang ihr nicht.
    »Du bist nicht schuld«, sagte sie, »der Arzt sagt, auf jede Geburt kommt eine Fehlgeburt.«
    »Kannst du keine Kinder kriegen?« fragte ich.
    »Doch«, sagte sie, »aber ich muß Hormone nehmen, wenn ich wieder schwanger werde.«
    »Es tut mir leid«, sagte ich.
    Sie setzte sich auf und umarmte mich.
    »Ich habe dich vermißt«, sagte sie. Dann begann sie zu weinen. »Sechs Zentimeter groß war es, hat der Doktor gesagt.«
    »Wann ist es geschehen?«
    »Ich war drei Tage in der Klinik«, sagte Agnes. »Sie mußten eine Ausschabung machen. Das Kindsmaterial, hat der Doktor gesagt. Damit es keine Infektion gibt. Es war nicht lebensfähig. Das Kindsmaterial.«
    Ich blieb die Nacht über bei Agnes, lag angezogen neben ihr auf der Matratze und konnte nicht schlafen. Gegen Morgen stand ich auf. Ich wollte lesen, aber ich fand nur die Norton Anthology of Poetry und einige Prospekte. Die Coupons, mit denen man ein Glas Peanutbutter oder ein Paket Cereals zehn Cents billiger kaufen konnte, waren sorgfältig ausgeschnitten. Ich holte mir ein Glas Orangensaft. Die Küche war so sauber, als sei sie nie benutzt worden. Der Kühlschrank war fast leer. Ich schaute in die Schränke. Bei den Putzsachen fand ich ein Paar Gummihandschuhe, auf denen mit schwarzem Filzstift »Küche« geschrieben stand. Aus Neugier ging ich ins Badezimmer und fand dort in einem Schrank das entsprechende Paar mit der Aufschrift »Bad«. Daneben lag ein Stapel bunter Waschlappen. Der oberste war alt und ausgebleicht, und jemand hatte »Agnes« darauf gestickt. Ich ging zurück ins Zimmer. Aus der Nische, in der die Matratze lag, hörte ich, wie Agnes sich im Schlaf bewegte und etwas murmelte. Ich setzte mich an ihren Schreibtisch, öffnete willkürlich eine Schublade. In einer alten Schachtel waren Briefe und Postkarten, sortiert nach Absendern. Auf kleinen Registerkarten stand »Eltern«, »Großeltern«, »Onkel/Tanten«, »Cindy«, »Herbert«.
    Es gab auch eine Karte mit meinem Namen, aber das Fach dahinter war leer. Ich hatte Agnes nur einmal eine nichtssagende Karte aus New York geschickt, und die hatte ich in der Küche am Kühlschrank gesehen.
    Ich nahm den Stapel mit Herberts Briefen aus der Schachtel. Zuoberst waren einige Postkarten, dann kamen Briefe, dann wieder Postkarten und zum Schluß drei neue Briefe, der letzte sehr dick und erst vor wenigen Tagen in Chicago abgestempelt. Ich schaute in den Umschlag, ohne den Brief herauszuziehen, und las: »Liebe Agnes«. Ich stellte die Briefe zurück in die Schachtel und setzte mich auf einen Stuhl beim Fenster. Irgendwann schlief ich ein.
    Am Morgen ging es Agnes etwas besser, und sie stand auf, um zu frühstücken.
    »Ich habe es nicht so gemeint, damals«, sagte ich. »Ich habe lange nachgedacht. Ich habe versucht, dich zu erreichen.«
    »Es war nicht das, was du gesagt hast. Aber daß du mich allein gelassen hast. Daß du einfach weggelaufen bist.«
    »Wenn du ein Kind möchtest …«
    »Du willst es nicht wirklich. Aber das spielt ja jetzt keine Rolle mehr.«
    »Vielleicht später«, sagte ich.
    »Ja«, sagte Agnes, »vielleicht später.«

26
    Agnes zog wieder zu mir. Die Fehlgeburt belastete sie mehr, als ich anfangs geglaubt hatte. Wenn wir zusammen waren, sprachen wir nicht davon, aber sie saß oft allein im Schlafzimmer und schaute aus dem Fenster. Zwischen den Häusern konnte man ein kleines Stück des Sees erkennen.
    »Was geschieht mit den Vögeln, wenn der See zugefroren ist?« fragte Agnes einmal.
    »Ich glaube nicht, daß er ganz zufriert«, sagte ich, »oder die Tierschützer schlagen Löcher ins
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