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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat
Autoren: Julien Green
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nicht vor freudiger Erregung gezittert beim täglichen Geräusch des sich umdrehenden Schlüssels!
    Seither war durch eine Marotte, die Adrienne sofort angenommen hatte, die Straße jener ersten Begegnung mit Maurecourt zu ihrem gewohnten Spazierweg geworden, und sie versäumte es nie, einen Armvoll Margeriten und Wiesenköniginnen zu pflücken wie beim ersten Mal, denn wahrscheinlich rechnete sie durch ein zweifelhaftes Kalkül ihrer von Langeweile überreizten Seele damit, dieselben Umstände würden dieselben Folgen nach sich ziehen. Und obwohl der Doktor auf dieser Straße nicht wieder auftauchte, versteifte sie sich mit all der Energie, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, darauf, diesen Spaziergang eine Woche lang jeden Tag zu wiederholen.
    Dieser Maurecourt, den man so selten zu Gesicht bekam und den gut zu kennen niemand sich schmeicheln konnte, wohnte nicht weit von der Villa des Charmes entfernt. Allerdings war eine gewisse Zeit vergangen, bis Adrienne davon erfuhr; sie war nämlich zerstreut und hörte fast nie zu, wenn der Vater ihr am Abend seine kleinen Neuigkeiten auftischte, erst von dem Tag an, als sie den Doktor im Wagen gesehen hatte, wurde sie neugieriger und hörte zu, jedoch ohne Fragen zu stellen. Da Monsieur Mesurat zu den Leuten zählte, für die eine Neuigkeit auch nach wochenlangem Gerede noch ihre lebendige Frische bewahrt, erfuhr sie nun, daß Doktor Maurecourt eben jenes Haus gemietet hatte, das der Villa Louise gegenüberlag. Zunächst wollte sie es einfach nicht glauben, so wie man sich weigert, an die Wirklichkeit von verheerenden oder sehr glücklichen Ereignissen zu glauben, und sie mußte ihren Vater ansehen, um sich davon zu überzeugen, daß er die Wahrheit sagte. Der alte Mann schnitt gerade mit der respektvollen Hingabe jener Menschen, die im Essen eine letzte Leidenschaft finden, sein Fleisch in winzige Stücke und merkte nichts von der Unruhe, die seine Tochter möglichst zu verbergen trachtete.
    »Papa«, sagte sie nach einer Weile mit tonloser Stimme, »so ein Glück für Germaine!«
    Germaine war mit ihrem Mittagsmahl bereits fertig und hatte sich im Salon ausgestreckt. Monsieur Mesurat runzelte die Stirn.
    »Was hat Germaine denn? Sie ist nicht krank.«
    »Nein«, verbesserte Adrienne sich sogleich. »Aber wenn sie krank würde…«
    »Hm, ja«, brummte Monsieur Mesurat, »dann ist es für uns alle wahrscheinlich ganz praktisch, einen Doktor in der Nähe zu haben.«
    »Ja.«
    Sobald sie konnte, lief sie in ihr Zimmer, um sich zu verstecken, um ihre glänzenden Augen zu verstecken und ihre vor Aufregung glühenden Wangen. Sie beugte sich aus dem Fenster und erspähte das Dach des weißen Hauses und ein Stückchen von einem Fensterladen. Kannte sie dieses Haus nicht? War es ihr denn nie aufgefallen? Ihr schien, als wäre dieser kleine Bau, von dem sie nur einen Bruchteil erblickte, eben erst hier, an dieser Straßenecke, aufgetaucht, wie Paläste in arabischen Märchen, und sie sah sich lange an ihm satt. Sie beobachtete die zarte Krone eines jungen Baumes, der zwischen den Schornsteinen aus hellroten Ziegeln und den gleichmäßigen Linien der Zierkanten aus dunklen Steinen zitterte.
    Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie verließ ihr Zimmer und blieb, an das Treppengeländer gelehnt, einen Augenblick im Flur stehen. Gesprächsfetzen drangen vom Salon zu ihr herauf, und sie erkannte die Stimme Germaines, die ihrem Vater Fragen stellte. Geräuschlos schlich sie nach oben zum Zimmer ihrer Schwester, ging hinein und trat an das offene Fenster. Und hier beugte sie sich noch einmal begierig hinaus. Die Straße erstreckte sich in ganzer Länge vor ihren Augen; nichts stand dem Blick im Wege wie im ersten Stock, und er konnte ungehindert durch den Garten der Villa Louise streifen, aber das interessierte sie gar nicht. Sie betrachtete das weiße Haus. Wie gut sie es sah, vom First bis zu der kleinen Kellerluke! Die beiden Fenster standen offen. Sie glaubte, einen roten Teppich und die Ecke eines Möbels, vielleicht eines Sekretärs, zu erkennen. Mit klopfendem Herzen drehte sie sich weg und setze sich auf die Fensterbank. Mit einem langen, von Neid und plötzlicher Traurigkeit erfüllten Blick umfasste sie dieses Zimmer, in dem sie sich befand, das ihr aber nicht gehörte.
    Von diesem Tag an träumte sie nur noch von Germaines Zimmer. Es wäre untertrieben zu sagen, daß sie den ganzen Tag daran dachte, denn laue Worte sind zu wenig, um von gewissen Seelen zu sprechen, in die die
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