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Acqua Mortale

Acqua Mortale

Titel: Acqua Mortale
Autoren: Christian Foersch
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Marktweiber und stecken uns entsicherte Handgranaten in die Manteltaschen.
    »Aufsitzen«, schrie er. Er legte seine Hand auf das Lederholster, das er am Gürtel trug. Dann schrie er: »Heil Hitler« und verschwand durch die Tür.
    Die Augen der verbliebenen acht Personen wanderten von der Tür zur Feuerstelle: Das Huhn war längst gar.
2
    Lunau überkam, als er auf seinen Schreibtisch sah, ein Gefühl von Ekel, aber er hatte sich geschworen, dass er bis zum Nachmittag die Formulare mit den Produktionsabrechnungen ausfüllen würde. Insgesamt 45 Seiten, in denen er kaschieren musste, dass erseinen Autoren einen Teil der Reisespesen erstattete. Außerdem hatte er mehrere Einladungen zu Festivals zu beantworten, zwei Manuskripte höflich abzulehnen, zwei Sendungen für Übernahmen zu prüfen, um 15 Uhr stand eine Besprechung mit den Abteilungsleitern Tagesaktualität und Künstlerisches Wort an, am Abend ein Symposium zur Meinungsfreiheit im Großen Sendesaal. Er war zum Bürokraten geworden.
    Da klopfte es. Er rief: »Herein.«
    Die Tür schwang auf, und Lunau traute seinen Augen nicht. Da stand Dr. Wilma Gerstner und lächelte. Sie hatte ihn noch nie angerufen, geschweige denn aufgesucht.
    »Was verschafft mir die Ehre?«, fragte er und bot seiner Wellenchefin einen Stuhl an. Sie blieb stehen, als wäre ihr der physische Kontakt mit dieser Umgebung unangenehm. Eine längliche Zelle mit grauem Teppichboden, angegrauten Wänden und einem vergilbten Holzfenster von 1929. Frau Gerstner betrachtete die unzähligen Farbfotos, die Lunau an die kahlen Wände gepinnt hatte. Zwei Sudanesen in verdreckten Ärztekitteln, eine Gruppe Eritreer in Kampfanzügen und Flip-Flops, Kinder mit Macheten auf einer Kakaoplantage. Die Bilder hatten nichts mit seiner jetzigen Funktion zu tun, und das schien Frau Gerstner zu missbilligen. Sie schaute aus dem Augenwinkel noch immer auf die Fotos und sprach wie beiläufig.
    »Wie Sie wissen, arbeiten wir an einer neuen Kommunikationskultur im Haus. Unser Sender muss effizienter, schlanker, dynamischer werden.«
    »Und dazu schafft man immer neue Chefsessel?«
    Dr. Wilma Gerstners Rücken wurde steif. Sie war Mitte vierzig. Ihr Haar dunkelblond getönt, Lider und Wangen leicht geschminkt, Feuchtigkeitscremes sollten die Furchen um Augen und Mund füllen. Ein halbes Leben lang hatte sie eisern darum gekämpft, beneidet zu werden. Und jetzt, in der zweiten Lebenshälfte,kämpfte sie eisern gegen ihre Neider. Zu denen sie auch Lunau rechnete.
    »Ich weiß nicht, wie ich Ihre Bemerkung verstehen darf.«
    »Alle sechs Monate wird unser Budget gekürzt, angeblich müssen wir die anderen ARD-Sender jedes Jahr um Finanzhilfe bitten. Wir haben kein Geld mehr für Reisespesen und CD-Rohlinge in den Studios. Wie hoch ist denn der Posten unseres neuen Koordinators für Kultur dotiert? Und wozu brauchen wir ihn? Um seiner Partei zu berichten, was wir hier treiben? Oder sagt ihm seine Partei, was wir hier treiben sollen?«
    Frau Gerstners Wangen wurden rot. »Sie sind nicht in der Position, die Richtungsentscheidungen unseres Hauses zu beurteilen.«
    »Das habe ich auch nicht vor. Ich bin ein Mann der Praxis.«
    »Ach ja?« Frau Gerstners Ton war scharf geworden. »Gut, dass Sie das erwähnen. Dann lassen Sie uns über die Praxis sprechen. Eigentlich war ich gekommen, weil ich ein Zeichen setzen wollte. Ich will die langen Dienstwege abschaffen. Flache Hierarchien ist das Stichwort.«
    Lunau fragte sich, warum ihn keiner vorgewarnt hatte. Entweder hatte die Gerstner die anderen nicht besucht, oder die anderen kümmerten sich nicht mehr um Lunau.
    »Also zur Praxis. Ihre Redaktion beliefert fünf Mini-Programmplätze in der Woche, fünf Mal fünf Minuten, und glauben Sie mir, ich gehöre zu unseren treuesten Fans. Ich spreche jetzt sozusagen als Ihre Hörerin, nicht als Ihre Chefin. Ich habe in diesem Jahr noch nicht eine spannende Neuproduktion gehört. Und diese Reisebilder aus Kasachstan, sagen Sie mal, wollen Sie sich über unser Publikum lustig machen?«
    »Ich wollte einem Anfänger eine Chance geben.«
    »Wir sind kein Workshop für Stümper.«
    »Der Junge ist kein Stümper. Er muss nur ein wenig geschult werden.«
    »Dann schulen Sie ihn. Dazu sind Sie Redakteur.«
    »Wissen Sie eigentlich, unter welchen Bedingungen wir hier produzieren? Sie wollen Reisebilder aus aller Welt, aber wir dürfen unseren Autoren keine Reisespesen erstatten. Glauben Sie, dass ein Profi unter solchen Bedingungen
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