Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6
Autoren: Rosa Liksom
Vom Netzwerk:
orangefarbenen Reifbirken und Kiefern, hinter denen verborgen Tiere umgingen, und auf den offenen Mooren wellte sich frischer Schnee, weiße, flatternde Unterhosen, schlaffe Penisse, Mischi, Maschi, Muschi, weite Blumennachthemden aus Flanell, Wollsocken, Schals, Zahnbürsten mit in alle Richtungen abstehenden Borsten.

Die Nacht jagt durch die Dunkelheit und wird zur Morgendämmerung, mürrische Schlange zum Heiligtum des Klos, Trockenwäsche im Pissegestank, Hustenreiz, Scham, betretene Mienen, Schatten dampfender Teegläser vor den Fenstern, große Platten kubanischen Zuckers, papierleichte Aluminiumlöffel, Schwarzbrot, Viola-Käse, Tomatenspalten und Zwiebeln, der Torso eines gebratenen Stubenkükens, ein Glas Meerrettich, hart gekochte Eier, Salzgurken, ein Glas Mayonnaise, Fischkonserven und Dosenerbsen aus Moldawien.
    Die Dämmerung flüchtet vor dem neuen Tag, der Schnee klettert an den Baumstämmen hinauf, die Stille der Wipfel schwindet, ein Greifvogel sitzt auf einer türkisen Wolke und sieht auf den Ringelwurm des Zuges herab.
    In oranger Färbung machte sich die Stille über der verschneiten Taiga breit. Der Mann saß auf dem Bettrand, stellte die Teegläser auf den Tisch und wartete ungeduldig, dass die junge Frau zu ihm herüberblickte.
    »Einmal lebten in Moskau ein Vater, eine Mutter und ein Sohn. In der Kropotkinstraße 65, in einem kleinen Zimmer hinter der Küche der Kommunalka, in einem Haus, in dem Schlösser nicht schützten. Diese Familie war ganz gewöhnlich, die Mutter Verkäuferin im Brotladen, der Vater soff auf Baustellen. War aber trotzdem ein ordentlicher Stachanow. Eines späten Abends, als sie glaubten, der Junge würde schon schlafen, sagte der Mann zu seiner Frau, entweder der Junge oder ich. Die Frau flüsterte zärtlich, warte noch einen Monat, dann ist er nicht mehr da.«
    Der Mann wischte sich mit der Handfläche die Nase und schluckte.
    »Am nächsten Morgen verabschiedete sich der Junge von seinem einäugigen Hund und drückte die Tür hinter sich zu. Bei Einbruch der Nacht schloss er sich anderen Geflohenen an und lebte fortan auf den Straßen Moskaus. Diese Straßenkinder schliefen mal hier, mal da, auf einem Haufen, wie die Welpen, zusammen mit Invaliden, Krüppeln, Dieben, Huren, Geisteskranken und Buckligen. Niemand vermisste sie, aber auch sie wollten leben. Je weniger Brot es gab und je mehr Elend, umso größer war der Lebenswille. Angst kannten sie keine, weil sie so jung waren, dass sie noch nicht wussten, was ein Leben wert war. Sie kannten sich und die Welt nicht. So wurde aus dem Jungen ein Kind der Straße. Zu einem Schwellkopf mit eisernem Rückgrat wuchs er heran. Zu einem Sowjetbürger, der puren Wodka pisst.«
    Er goss Tee in beide Gläser und gab aus dem Samowar kochendes Wasser hinzu, damit der Tee die richtige Stärke bekam.
    »Sag mir doch mal, warum ein Regenbogen niemals hinter dem Rücken des Betrachters wächst.«
    Plötzlich hörte man einen dumpfen Schlag, und der Zug bremste wütend. Die Schienen vibrierten, die Waggons schaukelten, vom Bahndamm stieb Schnee auf. Mit quietschenden Bremsen rutschte der Zug weiter, bis er mit einem Ruck zum Halten kam. Kolli fielen aus den Ablagen, Teegläser wurden gegen die Abteilwände geschleudert. Eine Frau kreischte, ein Kind weinte, jemand rannte mit schweren Schritten über den Gang.
    »Keine Panik. Alles in Ordnung. Volksgenossen, bleibt in den Abteilen! Hier gibt es nichts zu sehen«, hörte man Arisas beruhigende Stimme sagen.
    Der Mann öffnete die Abteiltür einen Spaltbreit. Der Gang war voller Neugieriger. Die junge Frau schaute aus dem Fenster, sah aber nichts als unter Schnee erstickenden Wald. Der Mann trat auf den Gang, und die junge Frau folgte ihm. Die Waggontür stand offen, Leute drängten aus dem Zug, manche ohne Mütze, manche in Pantoffeln. Der Mann schob sich nach vorne durch und sprang in den Schnee, mitten zwischen die gaffende, quasselnde Menschenmenge. Eingeklemmt blieb die junge Frau auf der obersten Stufe stehen. Von da aus sah sie etwas weiter vorne Blut auf den sauberen Schnee tropfen. Direkt neben einem Baum. Sie blickte am Stamm entlang nach oben. Im Geäst der Kiefer hing ein blutiges Bein von einem Elch.
    »Das Tier leidet, es muss totgemacht werden«, schnaufte Arisa. »Gebt mir ein Beil, und zwar schnell!«
    Als Arisa durch den Tiefschnee wieder zur Lokomotive gestapft kam, schwang ein Beil in ihrer Hand hin und her. Der dreibeinige Elch atmete schnell, und in seinen Augen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher