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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6
Autoren: Rosa Liksom
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halber hellgrauer Mond quoll über dem verschneiten, verschwiegenen und melancholischen Nadelwald auf, der rot schimmernde Mars leistete ihm Gesellschaft. Ein kleiner Junge, der am anderen Ende des Ganges mit einer verzierten Tonpfeife spielte, sang leise vor sich hin. Als das Mondlicht matter und schmutziger wurde, kehrte die junge Frau in ihr Abteil zurück. Sie war hungrig und müde.
    Im Abteil roch es nach Consul-Haarwasser, das man nur in den Lädchen der Parteihotels bekam. Durch den Geruchsschleier hindurch sah der Mann die junge Frau geradezu schüchtern an.
    »Geht es besser?«
    Auf dem Tisch waren ein Damebrett, ein batterieloses kleines Blaupunkt-Transistorradio mit grünem Katzenauge und ein fröhlich hüpfend Dampf ausstoßender Reisesamowar bereitgestellt. Der Mann hatte Tee in eine Emaillekanne gegeben und goss nun kochendes Wasser darauf.
    »Das mit der Muschi tut mir leid. Mich hat der Teufel geritten. Die Macht der Finsternis.«
    Stolz berührte er mit der Hand die Schläfe, wo eine kleine Wunde zu erkennen war. Dann deutete er auf den Winterstiefel der jungen Frau, den er mitten im Abteil platziert hatte.
    »Das hast du richtig gemacht. Ich hätte eine ordentliche Züchtigung verdient gehabt.«
    Die junge Frau lächelte.
    »Danke, mein Mädchen. Für die Bedrücktheit gibt es zweierlei Gründe: Entweder wir wollen, aber können nicht, oder wir können, aber wollen nicht.«
    Die junge Frau breitete ihren Proviant auf dem Tisch aus und fing an zu essen. Sie bot auch dem Mann etwas an, aber der hatte keinen Hunger.
    Als sie gegessen hatte, zog sie unter der Whiskyflasche in ihrem Koffer Garschins Rote Blume hervor und begann zu lesen. Mitka hatte ihr das Buch gegeben und gesagt, darin stehe, wie ein krankes menschliches Gemüt funktioniere. Langsam las sie in dem zerlesenen, im vorigen Jahrhundert gedruckten Buch mit den vergilbten Seiten. »Man entkleidete ihn trotz seines verzweifelten Widerstands. Mit einer durch die Krankheit verdoppelten Kraft riss er sich aus den Händen einiger Wärter los, sodass sie hinfielen; endlich überwältigten ihn vier, indem sie ihn an Armen und Beinen packten und in das warme Wasser tauchten. Es erschien ihm kochend heiß, und in seinem verrückten Hirn zuckte der zusammenhanglose, sprunghafte Gedanke von einer Tortur mit siedendem Wasser und glühendem Eisen auf. Wasser schluckend und krampfhaft mit den Armen fuchelnd und den Beinen strampelnd, an denen ihn die Wärter festhielten, sprudelte er kreischend sinnlose Worte heraus, von denen man keine Vorstellung haben kann, wenn man sie nicht selbst gehört hat.«
    Sie legte das Buch auf den Tisch. Ach, Mitka!
    Zärtlich packte der Mann das Radio in die Tasche und warf sich dann aufs Bett. Der späte Mond schaukelte haltlos über dem wilden Gelände.
    »Endlich scheint das Eis zu brechen, Mädelchen«, stellte der Mann leichthin fest. »Jetzt kann ich einschlafen. Für den Schlafenden ist das Leben leichter.«
    Sie sah zu, wie der Mann im Schlaf schnaufte. Er hatte etwas an sich. Vielleicht waren es seine Kohlblattohren. Seine Art, das Messer zu halten. Sein flacher, muskulöser Bauch. Sie nahm wahr, wie der Schein am westlichen Himmel für einen Moment das ganze Weltall purpurn färbte und wie am schwarzen Firmament die Sterne aufblitzten, einer nach dem anderen.
    Sie dachte an Mitka, an seine langen Wimpern, an die vollkommenen Zehen, an das nach innen gekehrte Lächeln. An den Tag, an dem sie im strömenden Regen ins Museum der Streitkräfte geflohen waren, wie sie sich in einem Panzer versteckt hatten und wie der Aufseher sie nach der Schließung gefunden hatte. Das alles hatte dazu geführt, dass sie noch in den frühen Morgenstunden mit dem Aufseher im Wachhäuschen mit Sektgläsern anstießen. Mitka, dessen Zimmertür immer offen bleiben musste, war in die Psychiatrie gegangen, damit er nicht zur Armee musste und nicht nach Afghanistan in den Krieg.
    Und durch die Dunkelheit hindurch gefror die Nacht zu einem roten Morgenanbruch vor dem Fenster. Der gelbe Mond kehrte den letzten leuchtenden Stern vor der feurigen Sonne hinweg. Und langsam wurde ganz Sibirien hell. Zwischen den Betten machte der Mann in blauen Trainingshosen, weißem Hemd und mit Schweiß auf der Stirn Liegestütze; verschlafene Augen, trockener, übel riechender Mund, im Abteil der klebrige Gestank des Schlafs, ein Fenster, das nicht atmete, stille Teegläser auf dem Tisch, schweigende Krümel auf dem Boden. Ein neuer Tag stand bevor, seine
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