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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss
Autoren: Amanda Hellberg
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schwaches:
    »Maaa …«
    Aber das genügt. Sie hat mich gehört. Unendlich langsam dreht sie sich um. Sie zwingt sich, den Kopf aufrecht zu halten. Er scheint nicht recht … festzusitzen. Sie richtet ihre fiebernden Augen auf mich. Diesen wahnsinnigen Blick, den sie manchmal hatte und den ich nicht vergessen kann. Der Blick, der besagt, dass alles geschehen kann und dass niemand weiß, was, am allerwenigsten sie selbst. Ich will schreien, sie möge verschwinden und mich in Frieden lassen. Ich habe getan, was ich konnte. Sie soll gefälligst in die Vergessenheit, ins Schattenreich zurückweichen und für immer dort bleiben. Ich habe sie begraben, um sie geweint und ihren Schmerz empfunden. Ich habe die tugendhafte Tochter tausend Mal besser gespielt, als sie es verdient hat. Es reicht!
    Sie zieht die Oberlippe hoch und lächelt ihr starres Raubtierlächeln. Die Zähne sind schwarz.

5. Kapitel
    »Wach auf! Das ist nur ein schlechter Traum. Wach auf!«
    Ich starre in ein Paar große, dunkelbraune Augen. Sie hat die Deckenlampe angeknipst und hält mich vorsichtig im Arm.
    »Oh, entschuldige, ich muss eingeschlafen sein …«
    »Kein Problem«, lächelt sie. »Du hast irgendetwas Fürchterliches geträumt, ich musste dich regelrecht schütteln. Ich bin übrigens Nikita. Und du heißt Maja, stimmt’s?«
    Ich nicke und wische mir mit dem Zeigefinger den Schweiß von der Stirn, wobei ich so tue, als würde ich mir bloß eine Haarsträhne aus dem Gesicht streifen. Meine Arme schmerzen, als hätte ich sie lange Zeit angespannt.
    »Schöner Name. Buchstabiert man ihn M-a-y-a?«, fragt Nikita.
    Ich erkläre ihr die richtige Schreibweise und muss mich anstrengen, nicht mit den Zähnen zu klappern.
    »Wie wäre es mit einer Tasse Tee? Raymond hat gesagt, du seist heute erst in der Stadt eingetroffen. Anstrengend umzuziehen, nicht wahr?«, sagt sie.
    Während Nikita mit dem Wasserkocher beschäftigt ist, setze ich mich auf, lege das Kinn auf die Knie und betrachte sie. Eine große, kräftige junge Frau. Sie trägt einen aus Flicken zusammengesetzten, vermutlich selbst genähten Minirock und eine dicke Strumpfhose. Das dunkle Haar hat sie zu einem Knoten hochgesteckt. Ich finde, ihr Profil wirkt ägyptisch.
    »Mensch, Maja, du zitterst ja am ganzen Leib. Frierst du? Soll ich den Heizstrahler anmachen?«
    »Nein, das ist es nicht … Es war in letzter Zeit einfach nur etwas viel.«
    »Komm her«, sagt sie und stellt den Wasserkocher ab.
    Ich stehe etwas linkisch vom Bett auf.
    »Raymond sagte, du hättest vorhin schon so bleich ausgesehen. Das gibt’s doch wohl nicht. Was hast du heute eigentlich gegessen?«
    »Nicht so viel.«
    »Jetzt gehen wir runter in die Bar. Die hat zwar offiziell schon geschlossen, aber ich weiß, wo die übergebliebenen Sandwiches liegen. Ein Sandwich und ein Bier, das wird uns jetzt guttun. Und ein bisschen Gesellschaft.«
    Nikita hat mich in der Studentenbar zu einer Bank geführt und auf den Tisch vor mir eine Flasche Bier und ein belegtes Brötchen gestellt. Ich fühle mich wie eine Aufziehpuppe, die zu allem mechanisch nickt. Wir sind allein in dem länglichen Raum, der auf den Garten hinausgeht und vor dem eine mit Steinplatten gepflasterte Terrasse liegt. Ab und zu gehen draußen an dem erleuchteten Empfang ein paar fröhlich plaudernde Studenten vorbei. Ich nippe an meiner Flasche, eigentlich nur, um es Nikita recht zu machen. Das Bier tut erstaunlich gut. Irgendwie lässt es alles – ja was eigentlich alles? – nicht mehr so wichtig erscheinen. Ich entferne die Plastikfolie und beiße in mein Brötchen. Es ist etwas hart und mit geriebenem Käse, Mayonnaise und Salatzwiebeln belegt. Es schmeckt lecker. Nikita sieht aus wie eine zufriedene Mutter. Sie leert ihre eigene Flasche und holt zwei weitere aus dem Kühlschrank hinter dem Tresen. Als sie zurückkommt, rülpst sie wohlerzogen hinter vorgehaltener Hand und betrachtet mich von der Seite.
    »War das Brötchen gut?«, fragt sie.
    Es ist kein Krümel mehr übrig.
    »Mhh«, antworte ich.
    »Du sprichst wirklich nicht viel, Maja.«
    Ich zucke mit den Achseln.
    »Nein, vielleicht nicht.«
    Sie lacht.
    »Gut! Das gefällt mir. Die Leute reden ohnehin alle zu viel Unsinn. Noch ein Brötchen?«
    »Aha. Wusste ich doch, dass ich dich hier finde, du Besen.«
    Ein Typ mit einem mehrmals um den Hals geschlungenen Schal steht in der Tür und haucht seine kalten Finger an. Nikita steht auf, streckt ihm die Zunge heraus und umarmt ihn. Dann entdeckt er
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