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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen
Autoren: Horst Biernath
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das Büfett brauchten sie eine volle Stunde. Und dann konnte die erste Fuhre losgehen und wurde vor dem Haus an der Simpsonstraße abgestellt. Aber dann kamen die Kisten mit Porzellan und mit Ernsts juristischen Büchern an die Reihe, da mußte Mutter schon umpacken, weil sie nicht imstande waren, die schweren Kisten auch nur anzulupfen. Und dann kam das Klavier! Der alte Klimperkasten aus der Trautweinschen Manufaktur wog gut und gern vier Zentner oder sogar noch einiges darüber, und natürlich besaß unser Fuhrunternehmer weder Traggurte noch Spediteurshaken, mit denen gelernte Möbelpacker ausgerüstet sind.
    »Julius!« rief Mutter beschwörend, als die Männer das Klavier bis zur Treppe gezerrt hatten, »wenn es den Leuten aus den Händen rutscht, dann gibt es hier einige Leichen!«
    Vater rann der Schweiß in hellen Bächen in den Zelluloidkragen. Er holte auch noch den Fuhrmann heran. Die Ader auf seiner Stirn war rot und dick angeschwollen, wie sie mir sonst nur Zornesausbrüche ankündigte, die sehr peinlich und schmerzhaft für mich zu enden pflegten.
    »Gib den Kerlen noch ein Schmalzbrot und noch ein Bier, Lina!« befahl er und ordnete eine längere Pause an. Und irgendwie bewirkten Brot und Bier das Wunder, daß der Trautwein ohne Bruch und ohne Schaden auf die Straße und auf den ächzenden Wagen kam und vor der neuen Wohnung auch ohne Bruch und ohne Tote und Verletzte ausgeladen wurde. Natürlich wäre es auch mir sehr unangenehm gewesen, wenn es bei diesem schwierigen Transport mehrere Leichen gegeben hätte, aber sonst hätte ich gegen eine Bruchlandung des verdammten Pianos nichts einzuwenden gehabt. Meine Geschwister, besonders Ernst, hatten bravourös geklimpert, und auch Mutter entlockte dem Trautwein den Frühlingsstimmenwalzer und leichte Bearbeitungen der Salonstücke von Mendelssohn-Bartholdy. Was lag näher, als auch mich am Klavier ausbilden zu lassen, vor allem, weil ich schon als Zehnjähriger mit meinen breiten Händen mühelos vom C bis zum D in der nächsten Oktave griff. Aber es lag wohl am Unterricht, an dem großen Wert, den Fräulein Stahl auf Geläufigkeitsübungen legte, daß mir ihre Klavierstunden zur Qual wurden. Kurz, bevor Fräulein Stahl zum zweiten Teil der Dammschen Klavierschule übergehen wollte, sah Vater ein, daß mein musikalisches Talent gerade noch für die Mundharmonika, nicht aber für das Klavier ausreiche, und erließ mir die Fortsetzung des Studiums. Später, als man vernahm, daß, wer Klavier spiele, Glück bei den Frauen habe, kam mein Bedauern, das Klavierspielen wie so manches andere versäumt zu haben, leider zu spät.
    Klavier und Möbel standen also auf der Straße. Inzwischen war es Nachmittag geworden, und der Himmel bewölkte sich. Die neue Wohnung aber lag im zweiten Stock des Hauses, und das Treppenhaus war auch nicht halb so geräumig wie jenes in dem hochherrschaftlichen Hause, in dem wir bis dahin gewohnt hatten. Mit den letzten Kräften schleppten unsere Gefangenen die Kleinmöbel zur zweiten Etage empor, aber als es an die schweren Stücke ging, da war der Ofen aus. Der Himmel bezog sich immer mehr und wurde immer dunkler. Mutter war der Verzweiflung nah, und wie immer, wenn ihr der Gaul durchzugehen drohte, biß sie sich in den Knöchel des Mittelfingers, um Vater nicht mit Vorwürfen zu überhäufen, daß er mit seiner Sparsamkeit am falschen Platz einmal wieder einen furchtbaren Blödsinn angerichtet habe.
    Die Rettung kam in der letzten Minute, kurz vor dem Wolkenbruch. Auch im gegenüberliegenden Hause fand ein Umzug statt. Dort bezog der Regierungsbaumeister Ploke, dessen Sohn mit mir in die Quinta M des Fridericianums ging, eine neue Wohnung. Aber nicht wie wir mit einem Droschkenkutscher und mit Gefangenen, sondern mit einem richtigen Möbelwagen und mit vier richtigen, blaubeschürzten Packern mit strotzenden Muskelpaketen auf den Armen und Schultern, die zudem mit allem Gerät ausgerüstet waren, das man zum Transport schwerer Stücke braucht. Vater zückte sein Portemonnaie und fand, was sonst gar nicht in seiner Art lag, Töne von bestrickender Liebenswürdigkeit: Ob die Herren wohl die Freundlichkeit haben würden... Er machte zwei Zehnmarkscheine locker, wedelte damit vor ihren Nasen, und siehe da, zwei der Herren waren so liebenswürdig, spuckten in die Hände und trugen, was vier Gefangene plus Vater plus Aufseher plus Fuhrmann kaum beim Herabtragen der Stücke geschafft hatten, das Büfett und den Trautwein zu zweit ohne
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