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Abschied aus deinem Schatten

Abschied aus deinem Schatten

Titel: Abschied aus deinem Schatten
Autoren: Charlotte Vale Allen
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Bestatterinstitut trugen derweil die traurige Bürde durch die Haustür und sodann die Treppe hinunter zur Hofeinfahrt. Claudia wurde hinten in den Leichenwagen geschoben, die Tür schloss sich langsam hinter ihr, stotternd erwachte der Motor zum Leben, und schließlich rollte der alte Cadillac vom Hof herunter, bog in die Straße ein und verschwand. Zu spät! Doch vielleicht, so sagte sich Rowena, sollte sie Claudias Wunsch ignorieren, einbalsamiert oder eingeäschert zu werden, und stattdessen für eine Erdbestattung sorgen. Auf diese Weise konnte immer noch eine Exhumierung vorgenommen werden, sollten etwaige Zweifel an der Todesursache bleiben.
    Als sie kurze Zeit später zusammen mit Ian das Haus verließ, sagte sie zu ihm: „Vielen Dank für alles. Ich weiß Ihre Hilfe zu würdigen.”
    „Hier haben Sie meine Privatnummer. Wenn Sie mich später anrufen möchten – ich kann mich gern um die Detailfragen für den Empfang und alles andere kümmern.”
    „Danke”, wiederholte sie und steckte Claudias Schlüsselbund in die Tasche. Vereinbarungsgemäß sollte Ian vorerst die Reserveschlüssel behalten. Mit einer Henri-Bendel-Einkaufstasche, die Claudias Handtasche, ihr Adressbuch und einen Aktenhefter mit der Aufschrift „Wichtige Dokumente” enthielt, stieg Rowena in ihr Auto und machte sich, bewusst langsam und übertrieben vorsichtig fahrend, auf den Weg zum Bestattungsunternehmen. Vor ihrem geistigen Auge tauchte immer wieder die Flasche Chivas Regal auf. Woher sollte der Pathologe auch wissen, dass Claudia als letzten Trunk niemals Whisky gewählt und außerdem in ihrer krakeligen Kinderschrift einen wohlformulierten Abschiedsbrief hinterlassen hätte?
    Als Rowena am späten Nachmittag heimkam, fiel ihr Blick sofort auf den Stapel schmutziger Wäsche im Flur. Sie wusste nicht, warum, doch bei dem Anblick hätte sie am liebsten geweint. Sie raffte den Wäscheberg zusammen, holte Waschpulver sowie ihre Sammlung von Vierteldollarmünzen und ging damit in den Waschraum. Nachdem sie in ihre Wohnung zurückgekehrt war, machte sie sich ein Sandwich mit Erdnussbutter. Sie hatte zwar keinen Hunger, doch ihr war klar, dass sie etwas essen musste. Mit dem Sandwich und einem Glas Milch ließ sie sich in der Essnische nieder, blätterte, während sie aß, Claudias Adressbuch durch und markierte mit einem Rotstift die Namen der Personen, die ihrer Meinung nach angerufen werden mussten. Viele der Eintragungen sagten ihr nichts, doch sie war überrascht, als sie die Privatnummern von Penny und Mark und deren Durchwahl in der Bibliothek entdeckte. Außerdem fand sie drei weitere ihrer eigenen Bekannten namentlich aufgeführt. Tony Reid war gleich doppelt vertreten – mit seiner dienstlichen und mit seiner privaten Adresse und Telefonnummer. Morgen, so nahm Rowena sich vor, wollte sie mit den Anrufen beginnen und alle Betroffenen von Claudias Tod unterrichten. Schon jetzt graute ihr davor.
    Eine halbe Stunde verging, bis die Wäsche gewaschen war, dazu eine Stunde für den Trockner, und es war inzwischen acht Uhr, als sie endlich die sauberen Sachen zusammenlegen konnte. Mittlerweile fielen ihr fast die Augen zu, und sie beschloss, gleich schlafen zu gehen. Während sie sich die Zähne putzte, schaute sie kurz in den Spiegel, doch sie wünschte, sie hätte nicht hineingesehen. Normalerweise vermied sie wohlweislich jeden Blick auf ihr Spiegelbild.
    Da stand sie nun: Rowena Graham, neununddreißig Jahre alt, zierlich, fast mager, mit langem braunen Haar, das dringend eines Schnittes bedurfte – weniger einer Frau ähnlich, wie sie fand, sondern eher einem langweiligen Wichtel. Für sie sprachen ihre schöne Haut, die ebenmäßigen Zähne, eine hervorragende Sehschärfe, Witz und Humor sowie überdurchschnittliche Intelligenz. Wie immer vom eigenen Spiegelbild irritiert, wandte sie sich abrupt ab und wankte müde in ihr kleines Schlafzimmer hinüber, um noch zwei Telefonanrufe zu erledigen. Sie hinterließ Penny und Mark Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, erleichtert darüber, dass sie mit niemandem sprechen musste. Dann, endlich, konnte sie den Kopf aufs Kissen sinken lassen.
    Es wurde eine schlimme Nacht. Nur kurz nickte sie ein, verfolgt von furchtbaren Angstträumen, in denen nicht allein Claudia, sondern auch ihre Eltern und sogar Cary auftauchten. Die meiste Zeit allerdings dämmerte sie im Halbschlaf vor sich hin und lieferte sich in Gedanken immer wieder wütende Auseinandersetzungen mit ihrer Schwester und
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