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Abendkuss - Teil I

Abendkuss - Teil I

Titel: Abendkuss - Teil I
Autoren: Birgit Loistl
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einer bewohnbaren Unterkunft. Im ersten Stock brennt Licht. Hinter einem Vorhang sehe ich die Silhouette einer zierlichen Gestalt auf- und abgehen.
Seit wann wohnt denn dort jemand?
Ich erinnere mich, dass vor ein paar Tagen noch ein Schild am Zaun angebracht worden war.
    Betreten verboten – Einsturzgefahr!
Es ist mir ein Rätsel, wie in dieser Bruchbude jemand wohnen kann. Für   einen Moment fühle ich mich wie James Stewart in dem Hitchcookfilm Das Fenster zum Hof, in dem er beobachtet, wie im Nachbarhaus jemand ermordet wird.  Aber so schnell wie sie gekommen ist, ist die Gestalt wieder          verschwunden und das Haus wirkt verlassen und leer. Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet? Die Psychotante würde mir jetzt sicherlich zustimmen.
Richtig, Mia. Du musst deine Sinne sensibilisieren, um Realität und Traum voneinander unterscheiden zu können.
Verwirrt schließe ich das Fenster und öffne meine Zimmertür. Auf Zehenspitzen schleiche ich über den Gang, vorbei an Leahs Zimmer, deren Tür nur angelehnt ist. Die Tür knarrt ein wenig, als ich sie Stückchen weiter aufschiebe. Das Fenster steht einen Spalt offen und die Straßenlaterne wirft etwas Licht in den Raum. Sie liegt wie ein Baby in ihrem Bett. Neben ihrem Kopfkissen schläft Billie, ein Kater, den Leah bei unserem Einzug vor unserer Haustür aufgefunden hat. Ohne mit der Wimper zu zucken hat Leah ihm Asyl gewährt. Er liegt so nah an ihrer Seite, als wolle er meine Schwester beschützen. So leise wie möglich, schließe ich die Türe und mache mich auf den Weg ins Bad.
     Unser Haus liegt im Westen der Stadt in einer kleinen Wohnsiedlung. Es ist nicht besonders groß. Ein          gemeinsames Bad, für jeden von uns ein eigenes Zimmer, das aber eher die Bezeichnung Besenkammer verdient hätte, ein Wohnzimmer und eine Küche. Da mein Vater die meiste Zeit im Krankenhaus verbringt, wohnen Leah und ich so gut wie alleine hier. Das hat natürlich seine Vorteile, aber auch einen ganzen Haufen Nachteile.
    Ich stütze mich am Waschbecken ab und senke den Kopf, um mein Spiegelbild nicht ansehen zu müssen. Ich weiß genau, was mich darin erwartet. Dasselbe Grauen wie jeden Tag. Graue Ringe unter meinen Augen       kennzeichnen meinen Schlafmangel und meine Haut ist weiß wie ein Taschentuch. Ohne weiteres würde ich einen Platz in einem Wachsfigurenkabinett bekommen. Meine Hände krallen sich am Porzellan des Waschbeckens fest.
    Ein und aus atmen, ein uns ausatmen.
Die Worte der Psychotante hallen in meinem Kopf wider.
Du musst deine Mitte finden, Mia. Lass die Luft dorthin strömen
. Seufzend nehme ich den Zahnputzbecher, fülle ihn mit Wasser und trinke ihn in einem Zug leer, aber wie zu erwarten, verschwindet das staubtrockene Gefühl in meine Kehle nicht. Ich drehe den Wasserhahn voll auf und spritze mir eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht, danach trockne ich mich ab und schleiche zurück in mein Zimmer. Fröstelnd öffne ich den Kleiderschrank und greife nach dem erstbesten Pullover, den ich finden kann. Die viel zu langen Ärmel ziehe ich über meine Hände und greife nach meinem Mp3 Player.
Killing me softly
ertönt. Nicht die gecoverte Hip-Hop Version aus den Neunzigern, sondern das Original von Roberta Flack aus den Siebzigern. 
     „Alles in Ordnung bei dir, Mia?" Mein Vater steht schlaftrunken in seinem abgetragenen Pyjama in der Tür. Er
    lehnt gegen den Türrahmen und seine rotbraunen Haare, die ich zweifellos von ihm geerbt haben muss,    strotzen nur so vor grauen Strähnen. Als wären sie über Nacht wie Unkraut aus dem Boden geschossen.
    "Es ist alles ok", lüge ich und warte förmlich darauf, dass meine Nase immer länger wird. Ich hasse es zu lügen. Es gibt nichts widerwärtigeres, als einen Menschen, den man liebt, anzulügen. Aber was soll ich machen? Das    Leben meines Vaters besteht aus einem riesigen Berg eigener Probleme. Er hat den Menschen verloren, den er am meisten geliebt hat. Ich kann ihn nicht noch mit meinen Problemen belasten.
    Er seufzt und kommt mir in kleinen Schritten näher, als hätte er Angst vor mir. Seine Wärme und der vertraute Duft seines After Shaves lösen eine ganze Lawine von Gefühlen in mir aus. Ich beiße die Zähne zusammen und unterdrücke die Tränen so gut ich kann.
Fang jetzt bloß nicht an zu heulen!
    "Du zitterst, Mia...“
    „Mir geht’s gut, Paps“, unterbreche ich ihn und ziehe die Ärmel noch weiter über meine Hände. Ich bete, dass er
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