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Abendkuss - Teil I

Abendkuss - Teil I

Titel: Abendkuss - Teil I
Autoren: Birgit Loistl
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Zeugnis steht neben meiner Geschichtsnote ein dickes, großes mangelhaft.
    „Entscheide dich in Ruhe für ein Thema und gib den Zettel morgen einfach im Lehrerzimmer ab.“
    Ich möchte noch protestieren, aber ich bekomme keinen Ton heraus. Stattdessen sehe ich Herr Bart zu, wie er seine Unterlagen zusammenpackt und das Klassenzimmer verlässt. 
     Während ich neben Loulou und David nach unten gehe, hole ich einen Apfel aus meinem Rucksack, den ich gestern dort vergessen habe und beiße hinein. Als Loulou mir die Tür aufhält, bleibt mir vor lauter Schreck das     Apfelstück im Hals stecken. So muss sich Schneewittchen gefühlt haben, bevor sie tot umgefallen ist. In diesem     Moment wünsche ich mir genau dasselbe Schicksal. Ich stehe in der Tür der Cafeteria und ziehe mit meinem        Hustenanfall die Blicke aller Schüler auf mich. Loulou und David werfen mir besorgte Blicke zu, doch ich bin nicht         imstande darauf zu reagieren. Ich bin wie erstarrt als ich sehe, was dort geschieht. Mitten auf einem der Bistrotische, die in der Cafeteria aufgestellt sind, steht meine kleine Schwester und tanzt. Sie dreht keine Pirouetten wie eine      Primaballerina, sondern bewegt sich wie eine Stripteasetänzerin. Ihr Trägershirt ist noch weiter verrutscht, sodass man die Spitze ihres BHs sehen kann. Um sie herum bildet sich eine Traube von Schülern, die sie anfeuern, als ständen wir mitten in einem Boxkampf. Johannes steht auf der anderen Seite und betrachtet das Geschehen mit weit     aufgerissen Augen. Loulou legt ihre Hand auf meine Schulter und flüstert meinen Namen, bis ich ihr ein Zeichen gebe, dass ich mich gleich wieder unter Kontrolle habe. Doch anstatt einfach umzudrehen und sie ihrem Schicksal zu überlassen, gehe ich schnurstracks auf Leah zu. Die anderen Schüler fangen an mich auszubuhen, als ich Leah   packe und sie vom Tisch zerre, aber das ist mir egal. Ihre Augen sind geschwollen und ihre Wimperntusche ist verschmiert.
    „Lass mich los!“, schreit Leah und versucht sich aus meiner Umklammerung zu lösen, während ich sie durch die Cafeteria schleife. Ein paar Schüler, unter ihnen auch Loulou und David, folgen uns, als ich mit ihr im Schulgang stehe.
    „Du sollst mich loslassen!“, kreischt Leah und stößt mich zur Seite.
    „Du führst dich auf wie eine ...“, ich schlucke das Wort hinunter, dass mir auf der Zunge liegt.
    „Wie eine was? Sag es ruhig, du sagst doch sonst auch immer, was du dir denkst, Miss Perfekt. Oh, tut mir Leid, der Titel wurde dir ja aberkannt. Warum denn nur?“ Sie fährt sich gespielt über das Kinn, als würde sie    nachdenken. Dann klatscht sie sich auf die Stirn, ehe es aus ihr herausplatzt. „Wie konnte ich es nur vergessen! Du bist schuld, dass Mama tot ist.“ Ihre Worte prügeln auf mich ein und schnüren mir die Kehle zu.
    „Das ist nicht fair“, flüstere ich.
Aber es ist die Wahrheit! Leah hat recht. Sie sagt nur die Wahrheit
.
    „Nicht fair? Ich will dir sagen, was nicht fair ist. Dass meine letzten Worte
Verschwinde aus meinem Leben    
waren, bevor ich Mama die Tür vor der Nase zugeworfen habe und dafür werde ich mich niemals entschuldigen     können. Und es ist nicht fair, dass Tom ein seelischer Krüppel ist. Erzähl mir nichts davon, was fair ist.“ Sie rückt ihr T-Shirt zurecht und schüttelt ihre Haare.
    „Und soll ich dir noch etwas sagen, Mia? Wenn ich nachts nicht schlafen kann, dann ertappe ich mich           dabei, wie ich mir wünsche, du wärst an ihrer Stelle gestorben.“ Ich muss ein paar Mal schlucken und die Worte     sacken lassen, damit ich darauf etwas sagen kann. Aber ich kann keinen klaren Gedanken fassen.  Leah sagt noch etwas, aber ich höre ihr nicht mehr zu. Mein ganzer Körper fühlt sich taub an und selbst, als sie sich umdreht und zurück in die Cafeteria geht, stehe ich immer noch mitten im Gang und lasse die Worte sacken, die sie mir ins     Gesicht geschlagen hat.
    David legt seine Hand auf meine Schulter.
    “Sie hat das nicht so gemeint. Leah beruhigt sich schon wieder.“
    Ich schüttle den Kopf und würde David am liebsten alles erzählen. Mir alles von der Seele reden, aber das     mache ich nicht. Sonst verliere ich nicht nur meine Mutter und meine Schwester, sondern auch noch meine     Freunde.
     Die nächsten Stunden lasse ich wie in Trance über mich ergehen und obwohl David und Loulou mich den     ganzen Unterricht
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