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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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den dicken Mann und die D-Mark entschieden – ich war nicht glücklich darüber.
    »Du willst die Mauer behalten?«
    »Keine Mauer, aber vielleicht erst mal noch eine ganz normale Grenze.«
    »Du bist gegen die Wiedervereinigung, von der jetzt so viel geredet wird?«
    »Ja.«
    »Warum?«
    »Man hätte was anderes versuchen können mit dem Land.«
    »Was denn?«
    »Keine Ahnung … Schon so was wie Sozialismus, aber irgendwie entspannter und demokratischer.«
    »Interessant«, sagte Mike nachdenklich. »Weißt du, was Bukowski sagt? Der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Diktatur ist, dass du in der Demokratie wählen darfst, bevor du den Befehlen gehorchst.«
    Irgendwann kam Matthew nach Hause, entledigte sich seiner Büro-Uniform, und zu dritt gingen wir in meine erste New Yorker Nacht. Wir liefen nach Osten, wo sie mir die Gegend zeigten, in die ich besser nicht allein gehen sollte, und schon gar nicht um diese Zeit. Hier war es dreckig und roch nach Fisch und Müll, und in den Hauseingängen lungerten Junkies, Trinker und Unbehauste.
    Sie zeigten mir die Clubs, in denen Jimi Hendrix, Velvet Underground und die Talking Heads gespielt hatten, und während wir liefen, erzählten sie mir tausend Geschichten über ihre Stadt – eine faszinierender und unglaublicher als die andere. Irgendwann stiegen wir in die U-Bahn, und dann standen wir an der großen Kreuzung, wo die Stadt am gierigsten war. Die schrillen Leuchtreklamen der Pornokinos und Peepshows zuckten nervös, und der Verkehr kroch wie eine lüsterne gelbe Schlange durch die Straßenschluchten.
    »Hier hab ich mal was Abgefahrenes gesehen«, sagte Matthew und zeigte auf den »Pleasure Palace«, vor dem ein paar zwielichtige Gestalten abhingen. »Da stand dieser schwarze Typ mit Ghettoblaster auf der linken Schulter. Er redete mit einer Prostituierten, das heißt, er musste sie anschreien, weil die Musik so laut war. Gleichzeitig pinkelte er an ein Auto. Vor aller Augen urinierte er gegen dieses Auto und unterhielt sich mit der Frau über den Preis von Crack.«
    »Jaja«, seufzte Mike gespielt. »New York ist die verblassende Hauptstadt eines sterbenden Empires. Die letzte verglühende Asche des amerikanischen Traums.«
     
    Am nächsten Tag war Wochenende, und Matthew hatte frei. Wir gingen über den Fluss, schlenderten durch schöne Parks und ausgelaugte Straßen, ich sah das schwarze, das chassidische und das russische Brooklyn, und in Coney Island fuhren wir mit dem einzigen Karussell, das zwischen rostigen Träumen und verrammelten Illusionen noch in Betrieb war. Am Abend besuchten wir seine Freunde in Chelsea, ich bekam zum ersten Mal in meinem Leben Garnelen und erntete belustigte Blicke, als ich ahnungslos die Schalen der Krustentiere mitaß.
    In der Woche darauf musste Matthew wieder arbeiten, und ich war allein. Meine Tage waren unkompliziert: Vormittags durchstreifte ich die Gegenden, die ich noch nicht kannte, nachmittags ging ich zu Plätzen, wo ich schon einmal gewesen war und die ich mochte. Einmal am Tag besuchte ich ein Museum oder besichtigte irgendeine Sehenswürdigkeit aus dem Stadtführer, und manchmal setzte ich mich einfach nur irgendwohin und sah dem Empire beim Sterben zu.
    Manchmal unterhielt ich mich mit Leuten, die mich einfach so ansprachen – in der U-Bahn, an der Straßenkreuzung oder im Café. Ich staunte, wie sie es in nur zehn Minuten schafften, von einer leeren Streichholzschachtel zur möglichen Existenz von Paralleluniversen zu kommen oder von einer viel zu langen Ampelphase zum Elend in der Dritten Welt. Dabei gaben sie mir das Gefühl, als sei ich der einzige Mensch auf der Welt, mit dem sie jetzt über all das reden konnten. »Und du kommst aus Ostdeutschland? Erstaunlich. Ihr müsst doch das glücklichste Volk der Welt sein.« Weg waren sie.
    »East Germany? Amazing!«, sagte auch der DJ beim Radiosender der New Yorker Universität. Matthew kannte ihn und hatte dafür gesorgt, dass er mich in seine Show einlud, um mit mir über DDR -Rockmusik zu reden. Ich hatte ein paar Schallplatten mitgenommen, und der DJ konnte es nicht fassen, dass es hinter der Mauer tatsächlich Punkbands gab. Ich schenkte ihm die Platten.
    »Du könntest deine eigene Show machen«, schlug er mir vor. »Beats from the East oder so.« Ich grinste. Der Gedanke, in New York zu bleiben, war verführerisch, zumal mir die Nachrichten aus meinem Land immer surrealer vorkamen. Man hatte inzwischen das Wappen aus der Fahne getilgt und
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