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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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beinahe sachlichen Gesprächen am Telefon, atemlose und romantische Bekenntnisse zweier liebestrunkener Teenager waren. Nie zuvor hatte ich erotischere Briefe bekommen als die von Matthew, nie zuvor hatte ich sinnlichere Beschreibungen meines Körpers gelesen, nie hatte mich beschriebenes Papier so sehr erregt. Wie im Rausch beschrieb mein amerikanischer Freund die uferlosen Liebesnächte, die uns bevorstünden, wenn ich im Frühjahr zu ihm käme. Ich hatte die englische Sprache schon immer gemocht, doch jetzt liebte ich sie.
    Matthew wollte, dass ich ihm in Deutsch antwortete. Zwar verstand er kein Wort, doch er sagte, es errege ihn, den Sinn meiner Sätze mit dem Wörterbuch zu entschlüsseln. Er hatte einen Knall. Aber einen schönen Knall.
    Wir beschlossen, dass ich im Frühling zu ihm nach New York kommen und ein paar Wochen bleiben würde. Von meinem Erbe war noch genügend Geld übrig, so dass ich mir die Reise würde leisten können, allerdings nützte mir das nichts, weil ich ja Westgeld dafür bezahlen musste. Also fragte ich meinen ältesten Bruder, ob er mir die Kohle borgen würde. Zweitausend Mark? Na klar, kein Problem.
    Ich ging zu einem Reisebüro in Westberlin und buchte den Flug. Als ich ein paar Wochen später die Tickets abholen und bezahlen sollte, rief ich meinen Bruder an.
    »Welches Geld?«, fragte er gereizt.
    »Für New York, ich muss die Tickets bezahlen.«
    »Ich hab jetzt keine Zeit dafür, ruf morgen wieder an.«
    »Ich fliege aber morgen schon.«
    »Dann komm in einer Stunde vorbei«, sagte mein Bruder kalt und legte den Hörer auf. Ich fuhr zu ihm und klingelte an seiner Haustür. Keine Antwort. Ich klingelte noch einmal.
    »Wer ist da?«
    »Ich bin’s.«
    »Ich kann jetzt nicht, komm in einer Stunde wieder.«
    Ich spürte, wie langsam Panik in mir aufstieg. »Das Reisebüro macht um sechs zu, und jetzt ist es schon halb fünf.« Kurzes Schweigen, dann hörte ich eine weibliche Stimme im Hintergrund, die etwas sagte, das ich nicht verstand. »Ich komme gleich«, sagte mein Bruder in die Gegensprechanlage.
    Fünf Minuten später hielt ein Taxi vor dem Haus, und kurz darauf trat auch mein ältester Bruder in Begleitung einer jungen Frau aus der Tür. Sie schaute mich entschuldigend an, während mein Bruder mich keines Blickes würdigte. Ich hatte ihn schon oft kühl und abweisend erlebt, doch so feindselig noch nie. Ich fühlte mich mies, und wäre ich nicht auf sein Geld angewiesen gewesen, wäre ich sofort abgehauen.
    Wir stiegen in das Taxi, mein Bruder nannte dem Fahrer eine Adresse, und kurz darauf hielten wir vor einem Café. Mein Bruder wies die junge Frau an, dort auf ihn zu warten, mich ignorierte er. Ich folgte ihm die Straße hinunter zu seiner Bank. Er ging schnell, und es schien, als täte er das absichtlich, um mir das Gefühl zu geben, ich sei ein lästiger kleiner Hund, der ihm nachlief. Arschloch, dachte ich.
    »Warte hier«, sagte mein Bruder, ohne mich anzusehen, und ging in die Bank. Ich wartete und hasste das ohnmächtige Gefühl, meinen Bruder zum Kotzen zu finden und doch von ihm abhängig zu sein.
    Fünf Minuten später kam er wieder heraus, drückte mir ohne ein Wort die Geldscheine in die Hand und wandte mir den Rücken zu, bevor ich überhaupt danke sagen konnte. Verdammtes Arschloch, dachte ich. Das kriegst du wieder. Ich holte die Tickets aus dem Reisebüro, und am nächsten Tag flog ich nach New York.
     
    Als Matthew mir in der Empfangshalle des Flughafens zuwinkte, hätte ich ihn fast nicht erkannt. Er trug einen Anzug und Krawatte und sah so ordentlich, ja fast spießig aus – ganz anders, als ich ihn in Erinnerung hatte. Wir umarmten uns, und ich registrierte den leichten Schweißgeruch – es war Matthew, daran gab es keinen Zweifel.
    Ein Taxi brachte uns über den Expressway nach Manhattan. Ich sah die Skyline. Ich war in New York. Ich konnte es nicht fassen.
    Matthew wohnte im West Village unweit des Washington Square Parks und teilte sich ein kleines Apartment mit einem Filmstudenten namens Mike. Er zeigte mir die Wohnung, sein Zimmer und sein Bett, dann zog er den Anzug wieder an, küsste mich, versprach, um sechs wieder da zu sein, und fuhr in seine Redaktion. Eigentlich hätte ich enttäuscht sein müssen, dass er sich am Tag meiner Ankunft nicht freigenommen hatte, doch komischerweise war ich nicht enttäuscht, im Gegenteil: Ich war sogar ganz froh, jetzt allein zu sein. Hier lag ich nun mitten in New York und schaute durch das halb
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