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80 Days - Die Farbe der Begierde: Roman (German Edition)

80 Days - Die Farbe der Begierde: Roman (German Edition)

Titel: 80 Days - Die Farbe der Begierde: Roman (German Edition)
Autoren: Vina Jackson
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Laster. Dem Fahrer des anderen Fahrzeugs fehlte nichts, er hatte nicht einmal einen Kratzer abgekriegt, aber Mrs. van der Vliets Wagen kam von der Straße ab, überschlug sich und stürzte in den Fluss. Noch ehe ihr jemand zu Hilfe eilen konnte, war sie ertrunken.
    »Wann?« Das Wort blieb mir in der Kehle stecken wie ein großer Wattebausch.
    »Vor fast zwei Monaten«, flüsterte Fran. »Wir wollten es dir nicht sagen, damit es dich nicht umwirft und du deine Auftritte vermasselst. Mum und Dad hatten Angst, du würdest alles stehen und liegen lassen, um zur Beerdigung zu kommen.«
    »Ja, ich wäre gekommen.«
    »Ich weiß. Doch was hätte es geändert? Er war tot, ob du nun hier warst oder nicht.«
    Wie die meisten Neuseeländer, die ich kenne, ist auch Fran praktisch und pragmatisch durch und durch. Doch trotz ihrer zwingenden Logik kam es mir vor, als würde mir das Herz wie in einem Schraubstock zusammengedrückt.
    Mr. van der Vliet musste in den Achtzigern gewesen sein, und ich glaube, er ist nie über den Tod seiner Frau hinweggekommen. Für mich aber war der stille und bescheidene Mann in meiner Kindheit ein Fels in der Brandung. Obwohl er die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens in Neuseeland verbracht hatte, hatte man stets den klaren holländischen Akzent herausgehört, wenn er mit seiner sanften, aber entschiedenen Stimme korrigierte, wie ich den Bogen hielt, oder mich nach einer gelungenen Wiedergabe lobte.
    Die Kunst des Geigenspiels hatte ich vorwiegend dadurch erlernt, dass ich genau beobachtete, wie sein langer und entsetzlich dünner Körper lebendig und geschmeidig wurde, sobald er ein Instrument hielt. Er spielte, als wäre er durch eine Tür an einen anderen Ort gegangen und dort zu einem völlig anderen Mann geworden, zu jemandem, der überhaupt nicht mehr linkisch war. Ich versuchte zu imitieren, wie er die Musik buchstäblich zu leben schien, und bald fand ich heraus, dass ich weit besser spielen konnte, wenn ich die Augen schloss und die Melodie mit jeder Faser meines Körper aufsaugte, als sie einfach nur vom Blatt zu lesen.
    Allerdings war Mr. van der Vliet nicht der Grund gewesen, dass ich mit dem Geigenspiel begonnen hatte. Dafür waren mein Vater und seine Schallplatten verantwortlich. Aber Hendrik van der Vliet war zweifellos der Grund, dass ich dabei geblieben war. Auf den ersten Blick wirkte er sehr streng, doch er hatte eine weiche Ader, die hin und wieder durchschien. Ich verbrachte einen Großteil meiner Kindheit und Jugend damit, mein Möglichstes zu geben, um ihm ein seltenes Lob zu entlocken, und das hieß üben, üben, üben, bis meine Finger wund waren.
    »Summer? Bist du noch dran? Alles in Ordnung?«
    Ihre Worte drangen aus der Ferne zu mir wie ein Echo.
    »Fran, ich ruf dich zurück, ja?«
    Ich drückte auf »Anruf beenden« und steckte das Handy wieder in die Hosentasche, ohne ihre Antwort abzuwarten.
    Dann stöpselte ich meine Kopfhörer ein und drehte die Musik laut auf. Emilie Autumns »Fight Like a Girl«. Mr. van der Vliet hätte es gehasst. Er hatte immer versucht, mich in Richtung klassische Musik zu lenken, und war enttäuscht gewesen, als ich das Studium schmiss und nach London ging.
    Vor meinem inneren Auge sah ich sein Gesicht unter der Wasseroberfläche. Hatte er einen Unfall gehabt? Einen Herzinfarkt, und das zufällig am selben Ort, an dem seine Frau gestorben war? Das bezweifelte ich. Soviel ich wusste, hatte Mr. van der Vliet nie auch nur eine Erkältung gehabt. Ich konnte ihn mir nicht krank vorstellen. Er musste es absichtlich getan haben, auch wenn ich ihn nicht für den Typ hielt, der sprang. Das war zu spontan für ihn. Wenn er sich entschieden hatte, endgültig von uns zu gehen, dann auf eine Weise, in der er in jedem Augenblick die Kontrolle über sein Hinscheiden behielt. Wahrscheinlich war er ins Wasser gegangen.
    Vor mir lief ein Film ab. Mr. van der Vliet trug seinen Sonntagsanzug, dazu ein weißes Hemd. Vielleicht war es derselbe dunkelolivgrüne Anzug mit Weste, den er bei dem Konzert getragen hatte, das ich in Te Aroha in der Schulaula gab, als mich meine Solotournee vor zwei Jahren durch Neuseeland und Australien geführt hatte. Er hatte wie ein Grashüpfer ausgesehen, als er seine Glieder ungelenk zusammenfaltete, um sich auf einen der kleinen Holzstühle zu setzen, mit denen die Aula bestuhlt worden war. Seine papierdünne Haut sah aus, als würde sie im Wind rascheln wie dürres Laub.
    Er watete einfach Schritt für Schritt in die Fluten
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