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5 1/2 Wochen

5 1/2 Wochen

Titel: 5 1/2 Wochen
Autoren: Birgit Kürten
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natürlich bei dem Verkehr angeleint ist - und passt sich einfach jedem Kommando, das er von mir bekommt, an. Macht Sitz, wenn Ruddi es macht, geht weiter, wenn er es tut. Die beiden gucken mich sogar gleichzeitig an. Es ist irgendwie rührend, wie viel Mühe sie sich von Anfang an gab, alles richtig zu machen.
    Kurz nach fünf bin ich endlich in der Altstadt. Es ist tatsächlich so, dass einige Leute, die vor den Cafés sitzen, ankommenden Pilgern applaudieren. Ich komme jedenfalls in den Genuss und finde es mehr als angemessen. Wie nach jeder der insgesamt 36 Etappen bin ich auch heute körperlich komplett am Ende und schleppe mich mühsam, durch diese letzte Gasse auf meiner langen Pilgerreise. So hat mein geneigtes Publikum wenigstens ausreichend Zeit, mich zu würdigen.
    Ein junger deutscher Fahrrad-Pilger, der gestern bereits angekommen ist, gratuliert mir, den Weg geschafft zu haben. Will ich wirklich jetzt schon auf den Vorplatz der Kathedrale kommen, der allerhöchstens noch hundert Meter von mir entfernt ist? Ich zögere das Ende meiner Wallfahrt zunächst für eine Weile mit einer Unterhaltung hinaus.
    „Hast Du Lust und Zeit, mit mir zusammen auf die Plaza del Obradoiro zu gehen?“ Liebevoll lächelnd antwortet er leise: „Du musst das alleine machen. Geh durch diesen Tunnel die Treppen hinunter. Dann stehst Du direkt auf der Plaza! Genieß es! Nimm Dir da unten ein paar Minuten nur für Dich.“
    Ich habe genau gehört und verstanden, was mir dieser junge Mann gesagt hat und setze mich langsam in Bewegung. Ich scheine mich verloren zu haben. Was ist denn da los? Wochenlang liebte ich die Einsamkeit, fühlte mich in Wäldern, auf weiten Ebenen, in großen Städten, kleinen Dörfern, Hotels, Hostals, Herbergen und bei Übernachtungen mit und sogar bei fremden Menschen sicher und beschützt. Und ausgerechnet an der Kathedrale in Santiago de Compostela, auf der Plaza de Obradoiro, an meinem großen Ziel habe ich fast Angst, alleine diese Treppen runterzugehen? Ich sehne mich nach jemandem, der den großen Augenblick, nach fast 800 Kilometern, körperlichen Schmerzen, Zweifeln, Aufregung, Durchhalten, Mut, Hoffnung, Glück, Freude und Euphorie, mit mir teilt und fühlt - jemand, der weiß, was der Camino Francés einem abverlangt und tausendfach zurückgibt. Genau jetzt will ich keine Einsamkeit.
    Das ändert sich exakt in dem Moment, wo ich diese wahnsinnig große Plaza betrete. Von einer Sekunde auf die andere fange ich einfach an zu weinen. Dicke Tränen laufen über mein Gesicht. Es schüttelt mich regelrecht vor Schluchzen. Meine Knie werden butterweich. Wie in Trance lege ich meinen Rucksack zur Seite und setze mich auf die Mauer, die den Platz eingrenzt. Ich nehme Ruddi auf den Schoß und drücke ihn zärtlich an mich: „Du hast es geschafft. Ich bin so stolz auf Dich. Das werde ich Dir nie vergessen. Wir sind in Santiago. Ich liebe Dich!“ Diese fünf Sätze laufen wie eine kaputte Schallplatte immer und immer wieder ab. Ich kann nicht mehr damit aufhören, merke gar nicht, dass ich rede.
    Ich kann nicht mehr denken - nur fühlen. Das Gefühl meinem Hund und mir selbst gegenüber ist überwältigend. Ich habe die Gewissheit, dass ich alles schaffen kann, wenn ich nur will. Jeder einzelne Kilometer zwischen Saint Jean Pied de Port und Santiago de Compostela läuft innerhalb von wenigen Minuten komplett vor meinem inneren Auge nochmal ab. Man sagt ja, dass einem auf dem Jakobsweg irgendwann Gott begegnet. Mein Gott ist das Universum. Und ich kann nur sagen: „Ich bin ihm jeden Tag begegnet. Jedes Mal, wenn ich dachte, ich kann nicht mehr, wurden mir neue Energie und frischer Mut gegeben. Damit ich durchhalte, schickten sie mir atemberaubende Landschaften, einzigartige Erlebnisse, liebevolle Menschen, Sonne, Regen, Tiere, Blitzideen und Erkenntnisse. Danke, ihr da oben!“
    Die Tränen laufen in Sturzbächen, tropfen von meinem Kinn auf Ruddi und machen ihn nass. Ich habe keine Ahnung wie lange ich bereits hier sitze. Perrito springt nun jedenfalls von meinem Schoss und erkundet die Plaza ganz für sich alleine. Es befinden sich deutlich weniger Menschen hier, als ich vermutet hatte. Die zugelaufene Hündin liegt ungefähr zehn Meter von mir entfernt und beobachtet mich verständnisvoll. Sie hat mich tatsächlich mit Ruddi alleine gelassen.
    Plötzlich höre ich, wie eine Frauenstimme fassungslos ruft: „Ruddi? Das ist doch Ruddi! Birgit?“ Ich brauche einen Moment, um zu mir zu kommen und bin
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