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4 - Wächter der Ewigkeit

4 - Wächter der Ewigkeit

Titel: 4 - Wächter der Ewigkeit
Autoren: Sergej Lukianenko
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mit dem Herzen ist?« Der Mann beugte sich hinunter, um Viktor bei den Schultern zu packen – und zog die Hände zurück, als habe er sich verbrannt. »Was ist das? Was soll der dumme Scherz? Licht! Wir brauchen Licht!«
    Ohne Ende schüttelte er seine Hände, von denen dicke dunkle Tropfen wegspritzten. Lera stand wie versteinert da und starrte auf Viktors reglosen Körper. Das Licht ging an, ein grelles weißes, alle Schatten verbannendes Licht, das die Stätte des Schreckens in die Bühne einer erbärmlichen Farce verwandelte.
    Doch auch die Farce endete zusammen mit der Gruselvorstellung. An Viktors Hals klafften zwei Schnittwunden. Aus ihnen sickerte träge wie die letzten Tropfen Ketchup aus einer umgedrehten Flasche Blut. Die wenigen, stoßweise austretenden Tropfen wirkten umso schauriger, weil die Wunden so tief waren. Und noch dazu direkt über der Schlagader lagen … als stammten sie von zwei Rasierklingen … oder von zwei sehr spitzen Zähnen …
    Und dann fing Lera an zu schreien. Hoch und schrecklich, mit geschlossenen Augen, während sie mit den Armen vor sich in der Luft herumfuchtelte wie ein kleines Mädchen, vor dessen Augen gerade sein Lieblingskätzchen von einem Laster auf dem Asphalt zerquetscht worden war.
    Schließlich steckt in jeder Frau – und mag sie noch so erwachsen sein – ein kleines, verängstigtes Mädchen.

Eins
    »Wieso konnte ich das?«, fragte Geser. »Und wieso konntest du es nicht?«
    Wir standen inmitten einer endlosen grauen Ebene. Der Blick konnte in dieser ganzen Weite keine leuchtenden Farben ausmachen, brauchte sich aber nur einmal an einem einzigen Sandkorn festzuhaken, um es golden, glutrot, azurblau und grün aufflackern zu lassen. Über uns prangte es weiß und rosa, gleichsam als erstrecke sich am Himmel ein Land, darinnen Milch und Honig fließen.
    Wind ging, und kalt war es. In der vierten Zwielicht-Schicht fror ich immer, was jedoch nur meine individuelle Reaktion war. Bei Geser traf beispielsweise das genaue Gegenteil zu: Er schwitzte, sein Gesicht leuchtete knallrot, über seine Stirn rannen kleine Schweißperlen.
    »Meine Kraft reicht nicht«, antwortete ich.
    »Falsch!« Gesers Gesicht changierte jetzt ins Purpurrote. »Du bist ein Hoher Magier. Wenn auch nur zufällig, aber so ist es nun einmal. Warum werden wohl Hohe Magier auch Magier außerhalb jeder Kategorie genannt?«
    »Weil sie sich durch ihre Kraft nur noch so geringfügig voneinander unterscheiden, dass dieser Unterschied nicht mehr messbar ist und man nicht mehr sagen kann, wer schwächer oder stärker ist …«, brummelte ich. »Das weiß ich doch, Boris Ignatjewitsch. Trotzdem reicht meine Kraft nicht. Ich kann nicht in die fünfte Schicht eintreten.«
    Geser blickte zu Boden. Wirbelte mit der Schuhspitze Sand auf, schleuderte ihn in die Luft. Trat nach vorn – und verschwand.
    Was war das? Ein Tipp?
    Ich schleuderte ebenfalls etwas Sand in die Luft. Trat vor – versuchte aber vergeblich, meinen Schatten zu fassen zu kriegen.
    Da war kein Schatten.
    Nichts hatte sich verändert.
    Nach wie vor klebte ich in der vierten Schicht fest. Mir wurde immer kälter, der Dampf von meinem Atem stob schon nicht mehr als weiße Wolke auf, sondern hagelte in pikenden Nadeln auf den Sand herab. Ich drehte mich um, denn es ist psychologisch immer leichter, die Flucht nach hinten anzutreten, machte einen Schritt und kam in der dritten Schicht des Zwielichts heraus. In dem farblosen Labyrinth aus von der Zeit zerfressenen Steinplatten, über denen ein tiefer schwerer Himmel graute. Hier und da mäanderten vertrocknete Halme über die Steine, eine wuchernde Ranke, die der Frost festgenagelt zu haben schien.
    Jetzt noch einen Schritt. Die zweite Schicht des Zwielichts. Das Steinlabyrinth verschwand unter einem Astgeflecht …
    Und noch einen. Die erste Schicht. Schon ohne Steine. Bereits wieder mit Wänden und Fenstern. Mit den bekannten Wänden der Moskauer Nachtwache, wenn auch in ihrer Zwielicht-Erscheinung.
    Mit letzter Kraft schleppte ich mich aus dem Zwielicht in die reale Welt. Direkt in Gesers Arbeitszimmer.
    Selbstredend saß der Chef bereits in seinem Sessel. Während ich schwankend vor ihm stand.
    Wie? Wie hatte er mich überholen können? Schließlich war er in die fünfte Schicht abgetaucht, als ich mich auf den Weg aus dem Zwielicht gemacht hatte.
    »Als ich gesehen habe, dass du es nicht schaffst«, meinte Geser, ohne mich auch nur anzusehen, »habe ich das Zwielicht auf direktem Wege
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