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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage
Autoren: Natascha Kampusch
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eine neue Dimension an. Ich machte mich nun auch tagsüber nass. Die Kinder lachten mich aus, und die Betreuerinnen feuerten sie dabei auch noch an und stellten mich ein ums andere Mal vor der Gruppe bloß. Sie dachten wohl, dass der Spott mich dazu bringen würde, meine Blase besser zu kontrollieren. Doch mit jeder Demütigung wurde es schlimmer. Der Gang zur Toilette und der Griff zum Wasserglas wurden zur Qual. Sie wurden mir aufgezwungen, wenn ich sie nicht wollte, und mir verweigert, wenn ich sie dringend brauchte. Denn im Kindergarten mussten wir um Erlaubnis fragen, wenn wir zur Toilette wollten. In meinem Fall wurde diese Frage jedes Mal kommentiert: »Du warst doch gerade erst. Warum musst du denn schon wieder?« Umgekehrt zwang man mich vor Ausflügen, vor dem Essen, vor dem Mittagsschlaf auf die Toilette und beaufsichtigte mich dabei. Einmal, als mich die Kindergärtnerinnen wieder im Verdacht hatten, mich nass gemacht zu haben, zwangen sie mich sogar, vor allen Kindern meine Wäsche zu zeigen.
    Wenn ich mit meiner Mutter das Haus verließ, nahm sie immer einen Beutel mit Wäsche zum Wechseln mit. Das Kleiderbündel verstärkte meine Scham und meine Unsicherheit. Die Erwachsenen rechneten also fest damit, dass ich mich einnässen würde. Und je mehr sie damit rechneten und mich dafür schimpften und verspotteten, umso mehr behielten sie recht. Es war ein Teufelskreis, aus dem ich auch während meiner Volksschulzeit nicht hinausfand. Ich blieb ich eine verspottete, gedemütigte und ewig durstige Bettnässerin.
     
    * *  *
     
    Nach zwei Jahren des Streits und einiger Versöhnungsversuche zog mein Vater endgültig aus. Ich war jetzt fünf Jahre alt und hatte mich von einem fröhlichen Kleinkind zu einem verunsicherten, verschlossenen Wesen entwickelt, das sein Leben nicht mehr mochte und auf verschiedene Arten dagegen protestierte. Mal zog ich mich zurück, mal schrie ich, übergab mich und bekam Heulkrämpfe vor Schmerz und Unverstandensein. Für Wochen quälte mich eine Gastritis.
    Meine Mutter, die selbst von der Trennung sehr mitgenommen war, übertrug ihre Art, damit umzugehen, auf mich. So wie sie den Schmerz und die Unsicherheit schluckte und tapfer weitermachte, verlangte sie von mir, dass ich die Zähne zusammenbiss. Sie konnte nur schwer damit umgehen, dass ich als kleines Kind dazu gar nicht in der Lage war. Wenn ich ihr zu emotional wurde, reagierte sie geradezu aggressiv auf meine Anfälle. Sie warf mir Selbstmitleid vor und lockte mich abwechselnd mit Belohnungen oder drohte mit Strafen, wenn ich nicht aufhörte.
    Meine Wut über die Situation, die ich nicht verstand, wandte sich so nach und nach gegen die Person, die nach dem Auszug meines Vaters dageblieben war: meine Mutter. Mehr als einmal war ich so zornig auf sie, dass ich beschloss auszuziehen. Ich packte ein paar Sachen in meinen Turnbeutel und verabschiedete mich von ihr. Aber sie wusste, dass ich nicht weiter als bis zur Tür gehen würde, und kommentierte mein Verhalten augenzwinkernd nur mit: »Okay, mach's gut.« Ein anderes Mal räumte ich alle Puppen, die sie mir geschenkt hatte, aus meinem Zimmer und reihte sie im Flur auf. Sie sollte ruhig sehen, dass ich entschlossen war, sie aus meinem kleinen Reich im Kinderzimmer auszusperren. Doch natürlich brachten diese Manöver gegen meine Mutter keine Lösung für mein eigentliches Problem. Ich hatte mit der Trennung meiner Eltern die Fixpunkte meiner Welt verloren und konnte auf die Personen, die bis dahin immer für mich da gewesen waren, nicht mehr bauen.
    Dazu kam eine alltägliche Form von Gewalt - nicht brutal genug, um als Misshandlung zu gelten, und doch so voll nebensächlicher Missachtung, dass sie mein Selbstwertgefühl langsam zerstörte. Unter Gewalt an Kindern stellt man sich systematische schwere Prügel vor, die zu körperlichen Verletzungen führen. Nichts davon habe ich in meiner Kindheit erlebt. Es war diese fatale Mischung aus verbaler Unterdrückung und »klassischen« Ohrfeigen, die mir zeigte, dass ich als Kind die Schwächere war.
    Es war nicht Wut oder kalte Berechnung, die meine Mutter antrieb, sondern eine immer wieder aufflackernde Aggression, die wie eine Stichflamme aus ihr schoss und ebenso schnell wieder verlosch. Die Ohrfeigen, die ich von ihr bekam, wurden zum schmerzhaften und demütigenden Bestandteil meiner Kindheit. Ich bekam sie, wenn sie überfordert war. Ich bekam sie, wenn ich etwas falsch gemacht hatte. Wenn ich mir weh getan hatte und
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