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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage
Autoren: Natascha Kampusch
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Sprüche wie »Große Mädchen weinen nicht« oder »Indianer kennen keinen Schmerz« meine Tränen nicht trockneten, schlug sie mich scharf ins Gesicht, »damit du wenigstens weißt, warum du heulst«. Manchmal landete eine Ohrfeige völlig ohne ersichtlichen Grund auf meiner Wange: »Irgendetwas wirst du schon angestellt haben.« Sie hasste es, wenn ich quengelte, nachfragte oder eine ihrer Erklärungen in Frage stellte - auch das war ihr schon eine Ohrfeige wert. Die größte Demütigung waren die Schläge mit dem Handrücken, die sie schnell über meine Wange zog. Die ganze Gesichtspartie wurde taub, und die Tränen schossen sofort in meine Augen.
    Es war in dieser Zeit und in dieser Gegend nicht ungewöhnlich, mit Kindern so umzugehen: Im Gegenteil, ich hatte ein sehr viel »leichteres« Leben als manch andere Kinder in der Nachbarschaft. Im Hof konnte ich immer wieder Mütter beobachten, die ihre Kinder anbrüllten, zu Boden stießen und auf sie einprügelten. Das hätte meine Mutter nie getan, und ihre Art, mich nebenbei zu ohrfeigen, stieß nirgends auf Unverständnis. Selbst wenn sie mir in der Öffentlichkeit ins Gesicht schlug, mischte sich nie jemand ein. Meist aber war meine Mutter zu sehr Dame, um sich auch nur dem Risiko auszusetzen, bei einem Streit beobachtet zu werden. Sichtbare Gewalt, das war etwas für die anderen Frauen in unserer Siedlung. Ich hingegen wurde angehalten, die Tränen abzuwischen oder mir die Backe zu kühlen, bevor ich das Haus verließ oder aus dem Auto stieg.
    Gleichzeitig versuchte meine Mutter, ihr schlechtes Gewissen mit Geschenken zu erleichtern. Sie wetteiferte regelrecht mit meinem Vater darum, mir die schönsten Kleider zu kaufen oder am Wochenende Ausflüge mit mir zu machen. Doch ich wollte keine Geschenke. Ich hätte in dieser Phase meines Lebens einzig und allein jemanden gebraucht, der mir bedingungslosen Rückhalt und Liebe gab. Meine Eltern waren dazu nicht in der Lage.
     
    * *  *
     
    Wie sehr ich damals verinnerlicht hatte, dass von Erwachsenen keine Hilfe zu erwarten ist, zeigt ein Erlebnis aus meiner Volksschulzeit. Ich war etwa acht Jahre alt und mit meiner Klasse für eine Woche ins Schullandheim in die Steiermark gefahren. Ich war kein sportliches Kind und traute mir kaum eines der wilden Spiele zu, mit denen die anderen Kinder ihre Zeit verbrachten. Aber auf dem Spielplatz wollte ich wenigstens einen Versuch wagen.
    Der Schmerz schoss scharf durch meinen Arm, als ich vom Klettergerüst stürzte und auf dem Boden aufschlug. Ich wollte mich aufsetzen, doch mein Arm gab nach und ich fiel nach hinten. Das fröhliche Lachen der Kinder, die rund um mich über den Spielplatz tobten, klang dumpf in meinen Ohren. Ich wollte schreien, Tränen liefen mir über die Wangen. Aber ich brachte keinen Ton heraus. Erst als eine Schulkameradin zu mir kam, bat ich sie leise, die Lehrerin zu holen. Das Mädchen lief zu ihr hinüber. Die Lehrerin aber schickte es zurück und ließ mir ausrichten, dass ich schon selber kommen müsse, wenn ich etwas wolle.
    Ich versuchte, mich hochzurappeln, doch kaum bewegte ich mich, war der Schmerz in meinem Arm wieder da. Hilflos blieb ich liegen. Erst einige Zeit später half mir die Lehrerin einer anderen Klasse auf. Ich biss die Zähne zusammen, weinte nicht und beklagte mich nicht. Ich wollte niemandem Umstände machen. Später bemerkte auch meine Klassenlehrerin, dass etwas mit mir nicht stimmte. Sie vermutete, dass ich mir bei dem Sturz eine starke Prellung zugezogen hatte, und erlaubte mir, den Nachmittag im Fernsehzimmer zu verbringen.
    In der Nacht lag ich in meinem Bett im Gemeinschaftszimmer und konnte vor Schmerzen kaum atmen. Dennoch bat ich nicht um Hilfe. Erst spät am nächsten Tag, wir waren gerade im Tierpark Herberstein, erkannte meine Klassenlehrerin, dass ich mich ernsthaft verletzt hatte, und brachte mich zum Arzt. Der schickte mich gleich ins Krankenhaus nach Graz. Mein Arm war gebrochen.
    Meine Mutter holte mich gemeinsam mit ihrem Freund aus der Klinik ab. Der neue Mann in ihrem Leben war ein guter Bekannter - mein Taufpate. Ich mochte ihn nicht. Die Fahrt nach Wien war eine einzige Tortur. Drei Stunden lang schimpfte der Freund meiner Mutter, dass sie wegen meiner Ungeschicktheit so eine lange Strecke mit dem Auto fahren mussten. Meine Mutter versuchte zwar, die Stimmung aufzulockern, aber es wollte ihr nicht gelingen, die Vorwürfe hörten nicht auf. Ich saß auf dem Rücksitz und weinte leise vor mich hin. Ich
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