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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage
Autoren: Natascha Kampusch
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dauerndes Wechselbad: Im einen Moment war ich der Mittelpunkt der Runde, wurde stolz präsentiert und bekam ein Zuckerl, im nächsten beachtete man mich so wenig, dass ich unbemerkt unter ein Auto hätte geraten können. Dieses Schwanken zwischen Aufmerksamkeit und Vernachlässigung in einer Welt der Oberflächlichkeiten zehrte an meinem Selbstbewusstsein. Ich lernte, mich in den Mittelpunkt zu spielen und so lange wie möglich dort zu halten. Heute erst habe ich begriffen, dass dieser Zug zur Bühne, mein Traum von der Schauspielerei, den ich von klein auf entwickelt hatte, nicht aus mir selbst kam. Er war eine Art, meine extrovertierten Eltern zu imitieren - und eine Methode, zu überleben in einer Welt, in der man entweder bewundert oder nicht beachtet wurde.
     
    * *  *
     
    Wenig später setzte sich dieses Wechselbad aus Aufmerksamkeit und Vernachlässigung, das mein Selbstbewusstsein so ankratzte, in meiner engsten Umgebung fort. Die Welt meiner frühen Kindheit bekam langsam Risse. Erst zogen sie sich so klein und unmerklich durch die vertraute Umgebung, dass ich sie noch ignorieren und die Schuld für die Missstimmungen auf mich nehmen konnte. Doch dann wurden die Risse größer, bis das ganze Familiengebäude in sich zusammenfiel. Mein Vater merkte viel zu spät, dass er den Bogen überspannt und meine Muter längst entschieden hatte, sich von ihm zu trennen. Er lebte weiter sein grandioses Leben als Vorstadtkönig, der durch die Bars zog und sich immer wieder große, imposante Autos kaufte. Es waren Mercedes oder Cadillacs, mit denen er seine »Freunde« beeindrucken wollte. Das Geld dafür borgte er aus. Selbst wenn er mir etwas Taschengeld gab, lieh er es sich schnell wieder zurück, um sich Zigaretten zu kaufen oder einen Kaffee trinken zu gehen. Auf das Haus meiner Großmutter nahm er so viele Kredite auf, dass es gepfändet wurde. Mitte der 1990er Jahre hatte er so viele Schulden angehäuft, dass die Existenz der Familie gefährdet war. Im Zuge einer Umschuldung übernahm meine Mutter die Greißlerei in der Pröbstelgasse und das Geschäft in der Marco-Polo-Siedlung. Aber der Riss ging weit über die finanzielle Seite hinaus. Meine Mutter hatte irgendwann genug von diesem Mann, der gerne feierte, aber so etwas wie Zuverlässigkeit nicht kannte.
    Für mich änderte sich mit der schrittweisen Trennung meiner Eltern das ganze Leben. Statt umsorgt und umhegt zu werden, ließ man mich links liegen. Meine Eltern stritten sich lautstark über Stunden hinweg. Abwechselnd sperrten sie sich im Schlafzimmer ein, während der andere im Wohnzimmer weitertobte. Wenn ich verängstigt versuchte nachzufragen, steckten sie mich in mein Zimmer, schlossen die Tür und stritten weiter. Ich fühlte mich darin gefangen und verstand die Welt nicht mehr. Mit dem Kopfpolster über den Ohren versuchte ich, die lauten Wortgefechte wegzudrücken und mich in meine frühere, unbeschwerte Kindheit zu versetzen. Es gelang mir nur selten. Ich konnte nicht begreifen, warum mein sonst so strahlender Vater nun hilflos und verloren wirkte und keine kleinen Überraschungen mehr aus dem Ärmel zauberte, um mich aufzuheitern. Sein unerschöpflicher Vorrat an Gummibärchen schien plötzlich ausgegangen.
    Meine Mutter verließ einmal sogar nach einem heftigen Streit die Wohnung und blieb für Tage verschollen. Sie wollte meinem Vater zeigen, wie es sich anfühlt, von seinem Partner nichts zu hören - für ihn waren ein, zwei Nächte außer Haus nichts Ungewöhnliches. Doch ich war viel zu klein, um die Hintergründe zu durchschauen, und fürchtete mich. Das Zeitgefühl ist in diesem Alter ein ganz anderes, die Abwesenheit meiner Mutter erschien mir endlos lange. Ich wusste nicht, ob sie überhaupt jemals zurückkommt. Das Gefühl der Verlassenheit, des Zurückgestoßen-Seins setzte sich tief in mir fest. Und es begann eine Phase meiner Kindheit, in der ich meinen Platz nicht mehr fand, in der ich mich nicht länger geliebt fühlte. Aus einer selbstbewussten kleinen Person wurde nach und nach ein unsicheres Mädchen, das aufhörte, seiner engsten Umgebung zu trauen.
     
    * *  *
     
    In dieser schwierigen Zeit kam ich in den Kindergarten. Ein Schritt, mit dem die Fremdbestimmung, mit der ich als Kind so schlecht umgehen konnte, einen Höhepunkt erreichte.
    Meine Mutter hatte mich in einem Privatkindergarten, der nicht weit von unserer Siedlung entfernt liegt, angemeldet. Von Anfang an fühlte ich mich missverstanden und so wenig angenommen,
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