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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
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für das MTA«, sagt der Junge. »Er hat mir erzählt, wie diese Typen einmal hier unten an den Gleisen gearbeitet haben, und der eine merkt plötzlich, wie ihm etwas das Bein hochkrabbelt, unter der Hose - und er fängt zu schreien an. Bis seine Kollegen bei ihm sind, hat die Ratte ihm schon die Eier abgebissen.«
    »Ach komm«, sagt der Kleine.
    »Echt wahr. Brauchst bloß mal zu gucken, wenn du das nächste Mal einen Trupp Gleisarbeiter siehst. Seitdem stopfen die sich die Hosenbeine nämlich immer in die Stiefel. Ehrlich«, sagt er über das Gackern seines Freundes hinweg.
    »Passt mal auf«, sagt Slattery. Er holt eine Hand voll Kleingeld aus der Hosentasche, nimmt ein Fünfcentstück und wirft damit nach der Ratte, die am dichtesten dran ist. Die Münze zischt an ihrem Kopf vorbei und knallt gegen die Schiene. Die Ratte huscht in den dunklen Winkel unter der Bahnsteigkante. Das mehrstimmige aufgeregte Fiepen bringt die Jungen zum Lachen.
    »Die rufen Achtung, Kopf einziehen!«, sagt der Große.
    »Hier«, sagt Slattery und hält ihnen die Hand voll Kleingeld hin. »Haut rein.«
    Die Jungen sehen einander kurz an, dann nimmt sich jeder eine Münze. Sie starren zu Slattery hinauf. Er nickt ihnen zu.
    »Dann zeigt mal, was ihr so drauf habt.«
    Der Große zielt sorgfältig auf eine dicke graue Ratte, die mit dem Kopf und den Vorderpfoten in einer leeren Chipstüte steckt. Er wirft die Münze zu kräftig; sie prallt klirrend von der Fliesenwand auf der anderen Seite des Tunnels ab, gleich unter dem rot gesprayten Namenszug SANE SMITH.
    »Du lässt zu früh los«, sagt Slattery. »Schau mal.« Er ahmt die Wurfbewegung des Jungen nach. »Siehst du? Wenn du so weit oben loslässt, verziehst du automatisch. So ähnlich wie beim... Spielst du Football?«
    »Nein.«
    »Baseball?«
    »Nein.«
    »Nein? Was spielst du dann?«
    »Fußball.«
    »Fußball. Na schön, vergiss es. Du bist dran, Kleiner.«
    Der Kleine drückt seinem Freund den Orangensaftkarton in die Hand und beugt sich vor, die eine Hand auf dem Knie, die andere, die die Münze hält, hinten an seiner Hüfte, wie ein Werfer beim Baseball, während er auf die Signale des Fängers achtet. Die dicke graue Ratte sitzt inzwischen auf den Hinterbeinen, ein Stück Kartoffelchip in den Pfoten. Sie knabbert kurz daran und sieht sich um, die schwarzen Augen klein und glänzend wie zwei Tropfen Blut. Der Junge nimmt sein linkes Bein nach oben, wie es der große Juan Marichal immer getan hat, beugt sich nach hinten und wirft seitlich. Die Münze wirbelt durch die Luft, und sie sehen ihr alle dabei zu - sogar die Ratte sieht jetzt auf, während sie ernst an ihrem Chip knabbert — und plock!, kriegt sie das Geldstück an den Kopf. Sie lässt den Chip fallen, schüttelt sich und schießt in die Schatten davon, während ihre Mitratten fiepen und die Menschen in Jubel ausbrechen.
    »Sauber!«, brüllt Slattery. Er hebt die Hand, und der Junge klatscht dagegen und grinst zufrieden.
    »Wahnsinn! Voll der Wahnsinn!«, ruft der Große. »Das hat gesessen, Charlie! Da hat Wucht hinter gesteckt!«
    Charlie sagt nichts, er grinst nur und hüpft auf einem Bein herum.
    »Tja, Leute«, sagt Slattery, »ab und zu mal muss man diesen Ratten zeigen, wer hier das Sagen hat.«
    Jakob sieht die Jungen am anderen Ende des Bahnsteigs herumhüpfen und fragt sich, warum sie so aus dem Häuschen sind. Er sieht auf die Uhr. Sechs. Noch drei Stunden, und der Bus nach Otisville fährt ab. Monty sitzt neben ihm, aber er ist gar nicht da, ist bloß ein leerer Fleck. Er macht nichts, sagt nichts, sitzt bloß da in seinem Kamelhaarmantel und starrt auf den grauen Betonboden, auf die platt getretenen Kaugummis.
    Als Slattery seinen Freund auf einer schwarzen Samtchaiselongue in der hintersten Ecke des Clubs gefunden hat, hat er Jakob hochgeholfen und einfach nur gesagt: »Monty will nach Hause.« Keiner von ihnen hat geredet auf dem langen Weg zum U-Bahnhof. Jakob hat immer wieder nach hinten zu den sechs Linien Fußspuren gesehen, die sich langsam mit Neuschnee füllten.
    Ihm ist klar, dass er jetzt etwas zu Monty sagen sollte, etwas tun sollte, irgendeine Geste der Solidarität zeigen, ihm sogar den Arm um die Schultern legen sollte, irgendetwas, aber er ist starr vor Angst, steif vor Erschöpfung, von der üblen Erinnerung an diesen Kuss. Er sieht immer noch Mary D'Annunzios Gesicht vor sich, schlaff vom Schock, ihren verwirrten Blick, die verrutschte Yankees-Mütze auf ihrem Kopf. Es ist weniger das
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