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239 - An der Pforte des Hades

239 - An der Pforte des Hades

Titel: 239 - An der Pforte des Hades
Autoren: Mia Zorn
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die heiligen Worte des Göttersprechers hören.«
    »Schon gut, ich sag nichts mehr.« Lityi lächelte ihn schelmisch an. »Aber zum anschließenden Essen solltest du gehen, sonst denken die Leute noch, du wärst verliebt in mich.« Kichernd zog sie sich ihre Decke über das Gesicht.
    Chacho grinste. Das tun sie sowieso, dachte er. Das halbe Dorf redete schon darüber, welch schönes Paar die beiden abgeben würden. Versonnen blickte er hinüber zu dem Kreis aus roten Eisblöcken, die den Kultplatz eingrenzten. Er selbst hatte geholfen, sie hierher zu tragen und mit Blut zu bepinseln. Er hasste den Geruch von Blut. Er hasste ihn, seit er vor fünf Jahren als Elfjähriger zum Kultort gebracht und von oben bis unten mit diesem widerlichen Blut toter Robben eingeschmiert worden war. »Du stehst nun unter dem Schutz der Göttin und sollst nicht länger Chichi genannt werden. Fortan lautet dein Name Chacho«, hatte der Göttersprecher ihm zugeraunt.
    Damals verstand er nichts von der Göttin und den seltsamen Ritualen der Pachachaos. Alles war so fremd und die merkwürdigen Menschen mit ihren langen Zottelhaaren und den großen Zähnen machten ihm Angst. Er wollte nicht ihre Sprache sprechen und suchte ständig die Nähe seines Papas. Der gab sich alle Mühe, ihm dabei zu helfen, sich an sein neues Zuhause zu gewöhnen. Er ging sogar auf das Betteln des Jungen ein, mit ihm in der Sprache seiner verstorbenen Mutter zu sprechen. Das hatten sie bis heute beibehalten.
    Heute war Chacho selbst ein Pachachao, trug auch diese langen Zottelhaare und kannte jedes Detail der verschiedenen Rituale. Wie alle anderen konnte er riechen, wie sich das Wetter entwickeln würde, erkennen, wo unter den Eisschollen ein guter Fang zu erwarten war, und sehen, unter welchen Schneeverwehungen sich die gefährlichen Eisrisse befanden. Am liebsten aber verbrachte er seine Zeit in der Eishütte des alten Pablo. Er war der Baumeister des Dorfes und für die beiden Segelschlitten des Stammes zuständig. Alle Monde lang entwarf er ein neues mechanisches Gerät, das für das alltägliche Leben nützlich war. Chacho und das Werkzeugetui seiner Mutter halfen ihm bei der Umsetzung seiner Ideen. »Bald werde ich mich zur Ruhe setzen und Chacho wird meine Werkstatt übernehmen«, pflegte der alte Pablo immer zu sagen. Chacho lächelte bei dem Gedanken daran.
    Auf dem Kultplatz erschien jetzt der Göttersprecher. Der große Mann in seinem rot gefärbten Fellumhang lief zur Mitte des Kreises und verbeugte sich vor dem walförmigen Stein der Göttin Mamapacha. Dann tauchte er eine Albatrossfeder in das Blut der getöteten Robbe und malte das Zeichen der Libra in den Schnee.
    Auch wenn Chacho zu weit weg von der Stätte stand, um die Zeichnung sehen zu können, wusste er, dass sie aussah wie ein windschiefes Haus und es sich bei der Libra um ein Sternzeichen handelte, das sein Vater auch »Waage« nannte. »Sie steht für das Trachten der Göttin nach Ausgleich und sollte das Streben eines jeden Pachachaos sein«, hatte er seinen Sohn gelehrt.
    Nun verneigte sich der Göttersprecher ein weiteres Mal vor dem Walstein. Sofort setzte ein dunkler Singsang der Umstehenden ein. Sable, der bisher ruhig neben Chachos Füßen gelegen hatte, sprang auf, reckte sich und begann laut zu schnurren. Sable liebte die Gesänge der Pachachaos. Sein langes Fell hatte eine rotbraune Färbung. Das Tier war inzwischen ausgewachsen und reichte dem Jungen bis fast an die Brust.
    Lächelnd kraulte Chacho sein Nackenfell. Dabei ließ er seine Blicke über die Menschenmenge wandern, die sich um den Kultkreis versammelt hatte. Es waren fast alle gekommen zur Einweihung des neuen Pacho, des Ersten der Pachachaos. Annähernd fünfzig Männer, Frauen und Kinder zählte das Volk.
    Noch vor zwanzig Jahren waren es über einhundertfünfzig gewesen. Doch die Verfolgungen hatten die Pachachaos stark dezimiert. Auch die ständige Flucht immer tiefer hinein in die gefährlichen Eiswüsten hatte ihre Opfer gefordert. Doch der Göttersprecher ermahnte die Menschen, nicht zu verzagen. »Wir müssen uns nie um unseren Fortbestand sorgen. Denn die Pachachaos überleben nun schon seit Jahrhunderten Verfolgung und Gefahren der Eiswüste«, predigte er immer wieder.
    Chacho wusste aus Erzählungen der Alten, dass das Land der Göttin vor Jahrhunderten von einer Vielzahl unterschiedlicher Nationalitäten bevölkert gewesen war. Nachdem der Feuerstern vom Himmel gefallen war, erklärten die anderen Bewohner
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