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2378 - Der Erste Kybernetiker

Titel: 2378 - Der Erste Kybernetiker
Autoren: Unbekannt
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Das traf bei Weitem nicht auf alle Knotenpunkte zu, viele waren leer. Und gierig, dachte Savoire, als würden sie darauf warten, endlich gefüllt zu werden. Ein irrealer Gedanke, der von Ängsten und dem Gefühl der Verlorenheit produziert wurde, dessen erschütternde Direktheit der Besucher allerdings nicht abschütteln konnte.
    Dann erkannte Savoire die zweite Leiche.
    Es war das Abbild von Vanika Hoog, der Frau, die Rodin Kowa über ein halbes Leben lang geliebt hatte und der er willentlich in den Tod gefolgt war. Kowa hatte gewusst, dass Vanika während ihres Dienstes als Prozessor gestorben war. War er ihr bewusst gefolgt?
    Savoire sah die offenen Augen der Toten, das Weiß und die dunkelblauen Iriden und die starren schwarzen Pupillen. Auf einmal wurde ihm klar, dass Kowa nicht nur vermutet hatte, was mit seiner Geliebten geschehen war - er hatte es gewusst, denn er hatte dieses Medium, in dem sie schwerelos trudelte, mehrfach aufgesucht, ehe er beschlossen hatte, zu einem Teil davon zu werden.
    Der Besucher bewegte sich hastiger, beinahe hektisch, weil er mehr sehen wollte. Die umliegenden Knotenpunkte waren unbesetzt, und obwohl er wusste, welcher Anblick ihn erwartet, schwamm er weiter. Immer weiter. Er würde nicht ruhen, bis er all die sechsunddreißig toten Prozessoren gesehen hatte.
    Ob und wie viel Zeit verging, wusste er nicht. Was spielte es für eine Rolle, ob es Millisekunden oder Stunden dauerte, bis er an Patmur Derz und Ulsa Garfinker vorüberzog? Die beiden waren die ersten Toten, ein altes Ehepaar, das nach dem Tod auf makabre Weise vereint in benachbarten Schnittstellen trieb. Von ihnen gingen dieselben Ströme geistiger Energie aus wie von allen anderen Prozessoren.
    Prozessoren ... So wollte er sie auch in Zukunft nennen, denn dass sie nach wie vor diese Funktion erfüllten, stand außer Zweifel. Ihr Dienst war lediglich auf eine andere Ebene gehoben worden. ESCHER benötigte keinen lebendigen, atmenden und körperlichen Terraner, sondern hatte sieh dauerhaften Ersatz beschafft und mehr als das. Die Prozessoren verrichteten ihre Arbeit nun körperlos. Sie waren zum Bestandteil der höheren Wesenheit geworden, von der Fawn Suzuke zuerst gesprochen hatte, als sie überfallartig die Gedankenkammer besuchte. Das war am dritten November des vergangenen Jahres gewesen, vor mehr als fünf Monaten, als diese verhängnisvolle Entwicklung ihren Anfang genommen hatte.
    Kowa und die anderen Toten bildeten nun Teile der Parapositronik ESCHER.
    Das also hatte die Botin des Nukleus gemeint, als sie von einer Genese sprach.
    Suzuke hatte vorhergesehen, was durch das Zutun des Nukleus entstehen würde - eine höher dimensionierte Existenz. Keine bloße Vernetzung von Maschine und menschlichem Bewusstsein, sondern ein eigenständiges Lebewesen.
    Nur wenig war dazu nötig gewesen, nachdem menschliche Wissenschaftler die materiellen und physischen Grundlagen geschaffen hatten. Nicht mehr als ein Funken des Nukleus und eine große Menge Sterbender, deren Lebensenergie absorbiert werden konnte.
    Savoire erreichte zwei dicht zusammenliegende Knotenpunkte. Darin rotierten zwei Gestalten mit ausgebreiteten Armen. Savoire kannte die beiden, aber er hatte ihren Anblick nicht erwartet, weil er sie noch vor wenigen Stunden gesprochen hatte. Es waren Pal Astuin und Merlin Myhr, die beiden schwarz gekleideten Sicherheitsleute und ehemaligen TLD-Agenten, die inzwischen für die Rekrutierung neuer Prozessoren zuständig waren.
    Bleiche, fast weiße Gesichter, scharf konturierte Wangenknochen, schwarzes glänzendes Haar ...
    Was hatte das zu bedeuten? Sie konnten nicht Teil des Gitternetzwerkes sein, denn sie lebten nach wie vor. Sie gehörten zu denen, die nicht gestorben waren, weil sie...
    Eine dumpfe Stimme riss ihn aus den Überlegungen. Mentaler Druck ging mit ihr einher und legte sich lähmend um ihn.
    Er konnte nicht verstehen, was diese Stimme sagte, doch ihre Intensität nahm zu. Sie drang aus weiter Ferne auf ihn ein und wurde von Augenblick zu Augenblick lauter und durchdringender.
    Etwas packte seinen Pseudokörper, riss ihn weg von den Totenlichtern, zerrte ihn durch die unendliche, hell erleuchtete Ewigkeit, wirbelte ihn durch den virtuellen Raum des Gittermusters.
    Das Licht explodierte, die Leichen schrumpften .zu winzigen Punkten, das Netzwerk stülpte sich über ihn und durchdrang ihn, zerriss seine Seele und schleuderte ihn von sich.
     
    *
     
    Er öffnete die Augen auf, stöhnte und schlug um sich.
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