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235 - Auf dem sechsten Kontinent

235 - Auf dem sechsten Kontinent

Titel: 235 - Auf dem sechsten Kontinent
Autoren: Michael M. Thurner
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Gesicht, verkrallte sich in die lederne Halsmanschette und riss sie ihm ab. »Du dummes Wesen!«, keifte sie. »Ja, dumm wie ein Stein bist du. Du wärst längst verloren, hätten wir uns nicht deiner angenommen, du blödes… Monster!«
    Es hätte nicht dieses letzten Wortes bedurft, um eine Assoziation in Matt zu wecken, die ihn unvermittelt traf wie ein Schlag. Er starrte auf die freigelegte Narbe – eine grob vernähte, schorfige Kerbe, die sich rund um den Hals des Franken zog. »Das Monster«, wiederholte er fassungslos. »Der Franke… Du bist … das Monster von Frankenstein!«
    Der Riese ließ Nanette achtlos fallen und drehte Matthew sein Gesicht zu. »Du kennst mich? Du kannst mir sagen, wer ich bin?«
    Der schmerzerfüllte, flehende Klang in der Stimme war es, der Matt antworten ließ, anstatt – was sicher vernünftiger gewesen wäre – die Flucht zu ergreifen. »Ich habe von dir… gelesen«, sagte er tonlos. »Ein Geschöpf, von einem wahnsinnigen Wissenschaftler aus Leichenteilen zusammengenäht. Durch Elektrizität zum Leben erweckt. Aber … das kann nicht sein!«
    Der Franke stand unverändert da, schien in sich hinein zu lauschen. Sein Blick drückte Verwirrung aus – und Schmerz, als überwältige ihn eine plötzliche Erinnerung.
    Dann schüttelte er seinen kantigen Kopf, sah auf Matt und sagte nur: »Komm!«
    ***
    Sie machten sich auf den Weg. Matts Begleiter kümmerte sich nicht mehr um das Gezeter und Wehklagen der Gadgets. Er wehrte sie ab, ließ sich von ihren Betörungen und Versprechungen nicht mehr weiter einlullen. Er zog das Tor zum Tunnel hinter sich zu und verbarrikadierte den Eingang mit schweren Steinen, die wohl niemand außer ihm wieder beiseite räumen konnte.
    »Ich erinnere mich jetzt«, sagte das Monster, mit deutlich klarerer Stimme als zuvor. »Mit deinen Worten hast du die… Mauer in meinem Kopf eingerissen. Was weißt du von mir? Warum weißt du von mir?«
    Matt schüttelte den Kopf, immer noch fassungslos. »Alles, was ich zu wissen glaube, habe ich aus einem Buch… von dem ich bisher dachte, es wäre nur ein Roman, geschrieben von Mary Shelley, einer Engländerin, Anfang des 19. Jahrhunderts.«
    »Ich bin keine Romanfigur«, erwiderte der Franke, während sie den dunklen feuchten Weg zurück zur Insel der Rozhkois entlanggingen. »Ich lebe.«
    »Aber du scheinst nicht zu wissen, was mit dir geschehen ist«, sagte Matt, während er zu begreifen versuchte, was da gerade vor sich ging. »Oder?«
    »Erzähl mir, was du von mir weißt. Dann rede ich.«
    Dieses Wesen war bei klarem Verstand. Nichts war mehr von dröger Dumpfheit zu bemerken, jedes seiner Worte – und vor allem die Sicherheit, mit der es sich mitteilte – zeugte von einem gut funktionierenden Intellekt.
    »Also schön.« Matt holte tief Atem. Er fühlte keine Angst mehr. Alles, was ihn nun noch beschäftigte, war die Sorge um Aruula. Er musste zu den Rozhkois, so rasch wie möglich.
    »Mary Shelley, eine neunzehnjährige Engländerin, erfand im Jahr 1818 während eines Aufenthalts am Genfer See die Geschichte um den Baron von Frankenstein. Man sagt, dass Lord Byron, der bei den Shelleys zu Besuch war, großen Einfluss auf sie ausübte.« Matt dachte nach, sortierte seine Erinnerungen. »Im Roman beschäftigte sich Baron Viktor Frankenstein mit der Werdung von Leben. Shelleys Mann hatte schon so genannte ›Froschschenkelexperimenten‹ beigewohnt. Zu jener Zeit experimentierte man erstmals ernsthaft mit Elektrizität und mutmaßte, sie könne den Funken des Lebens in sich tragen.«
    Das Monster sagte nichts. Es stapfte neben Matt her, lauschte interessiert.
    »In Shelleys Buch erschuf Baron Frankenstein nach einer nicht näher beschriebenen Methode neues Leben aus toter Materie. Aus Leichenteilen. Das Geschöpf erwacht, macht sich selbstständig, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Es tötet die Anverwandten und die Verlobte Frankensteins, nachdem dieser sich weigert, ihm eine Gefährtin zu erschaffen. Der Roman endet im arktischen Packeis. Das Monster tötet den Baron und bleibt im ewigen Eis zurück.«
    Matt schwindelte. Geschichte und Geschichten überschnitten sich. Hielt ihn der Franke zum Narren? Und wenn ja – warum? Es war unmöglich! Wie sollte eine Romanfigur in die Wirklichkeit des Jahres 2525 gelangen? Außerdem war das hier die Antarktis, nicht die Arktis.
    »Ich erzähle dir nun eine andere Geschichte«, sagte sein Begleiter. »Ich überlasse es dir zu glauben, was du
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