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2312

2312

Titel: 2312
Autoren: Kim Stanley Robinson
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mir schon. Wie geht es deinem neuen Bein?«
    Er deutete nach unten. »Ständig trete ich damit auf und stelle fest, dass es nicht dort ist, wo ich es vermutet habe. Anscheinend reden die Phantomnerven des alten Beins immer noch mit mir und bringen alles durcheinander.«
    »Genau wie mein Kopf!«, sagte Swan, ohne darüber nachzudenken, und lachte gequält. »Jedes Mal, wenn ich mir einen neuen wachsen lasse, ist er nicht mehr dort, wo ich es dachte.«
    Wahram betrachtete sie lächelnd. »Angeblich gewöhnt man sich schnell daran.«
    »Hmm.«
    »Wo wir gerade von nachwachsenden Köpfen reden – hast du eigentlich schon über das nachgedacht, was ich gesagt habe, während wir im Weltraum verschollen waren? Und natürlich auch über das, was ich danach auf der Venus gesagt habe.«
    »Ja, das habe ich.«
    »Und?«
    »Tja, ich weiß nicht.«
    Wahram runzelte die Stirn. »Hast du mit Pauline darüber geredet?«
    »Tja, ich denke schon.«
    Eigentlich war sie noch gar nicht auf den Gedanken gekommen.
    Wahram musterte sie. Schon bald würde die Sonne sie erreichen. Er sagte: »Pauline, willst du mich heiraten?«
    »Ja«, sagte Pauline.
    »He, Moment mal!«, rief Swan. »Ich bin diejenige, die ja sagen muss.«
    »Ich dachte, das hättest du gerade«, erwiderte Wahram.
    »Nein, das habe ich nicht! Pauline ist sehr wohl ein unabhängiges Wesen in meinem Kopf. Deshalb habt ihr mich ja auch von euren Konferenzen ausgeschlossen, nicht wahr?«
    »Ja, aber ihr beiden seid eine Einheit. Deshalb konnten wir dich nicht teilnehmen lassen, ohne gleichzeitig auch sie teilnehmen zu lassen. Ich weise nicht als Erster darauf hin: Du hast Pauline programmiert und tust es auch weiterhin. Insofern ist sie eine Art Projektion von dir …«
    »Absolut nicht!«
    »… oder vielleicht lässt sie sich besser als eines deiner Kunstwerke beschreiben. Die sind oft sehr persönlich.«
    »Meine Steinhaufen sind persönlich?«
    »Ja. Nicht so persönlich wie eine Woche lang nackt auf einem Eisklotz zu sitzen und dein eigenes Blut zu trinken, aber trotzdem sehr persönlich.«
    »Tja, Pauline ist aber kein Kunstwerk.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht ist sie so etwas wie eine Bauchrednerpuppe. Ist das nicht Kunst? Eine Vorrichtung, durch die man spricht. Insofern fühle ich mich sehr ermutigt.«
    »Das solltest du nicht!«
    Aber offensichtlich tat er genau das. Mit der Zeit, begriff Swan, würde das eine Rolle spielen – dass er an Pauline glaubte. Sie ging zum nächsten Bahnsteig hinab, und Wahram folgte ihr.
    Nach einer Weile sagte er: »Danke, Pauline.«
    »Nichts zu danken«, antwortete Pauline.

AUSZÜGE (18)
    einen Satz zu bilden bedeutet, zahlreiche einander überlagernde Wellenfunktionen in einem einzigen gedanklichen Universum kollabieren zu lassen. Wenn man die dabei verlorenen Universen Wort für Wort miteinander multipliziert, können wir sagen, dass jeder Satz 10 n Universen auslöscht, wobei n die Anzahl der Worte ist, die der Satz enthält. Jeder Gedanke verdichtet Milliarden potenzieller Gedanken. Insofern kommt es zu einer verbalen Verdunkelung, bei der die von uns gebrauchte Sprache die Wirklichkeit strukturiert, in der wir leben. Vielleicht ist das ein Segen. Vielleicht müssen wir deshalb immer neue Sätze bilden
    Texte werden geschrieben, damit andere Menschen sie später lesen. Sie sind eine Art Zeitkapsel, mit der man das Wort an seine Nachfahren richtet. Indem Sie diesen Text lesen, blicken Sie in eine frühere Zeit zurück, und möglicherweise erscheinen Ihnen der Tumult und die Unordnung jener Jahre nahezu unglaublich. Vielleicht befinden Sie, die Nachgeborenen, sich jenseits eines breiten Grabens, das Ende Ihres Lebens ist nicht absehbar, und Sie sind zu den Sternen unterwegs. Uns Lebenden, die wir in unserem Sonnensystem zappeln wie Bakterien in einer Regenpfütze, ergeht es da anders. Wir haben nur diese Pfütze. Manche darin hebeln gerade die Tür zu den Geheimnissen des Lebens auf; manche bewirtschaften einen Flecken Erde, um ihm genug Nahrung zum Überleben abzutrotzen. Sie wissen alles, was ich weiß; was können wir, die Lebenden, einander in dieser Situation sagen? In vielerlei Hinsicht ist es leichter, mit Ihnen zu reden, geneigte Leser, Nachgeborene. Vielleicht leben Sie Jahrhunderte, und dieser Text macht nur einen winzigen Bruchteil Ihrer Gesamtbildung aus, als ein kurzer Blick darauf, wie es früher war, um ein bisschen besser zu verstehen, wie Ihre Welt zu dem geworden ist, was sie heute ist. Doch Ihr
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