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23 Uhr, York Avenue

23 Uhr, York Avenue

Titel: 23 Uhr, York Avenue
Autoren: Lawrence Sanders
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nicht fahren. Ich bin verletzt.« Und ich sagte: »Wollen Sie in ein Krankenhaus? Das Mother of Mercy ist nur fünf Häuserblocks entfernt. Ich fahr' Sie 'rüber.« Und er sagte: »Nein, du fährst schön dahin, wo ich will.« Und ich sagte: »Werden Sie mich umbringen?« Und er sagte: »Nein, ich bring dich nicht um, wenn du tust, was ich sag'.«
    Autor: Und Sie glaubten ihm?
    Zeuge: Natürlich hab' ich ihm geglaubt. Was soll ich in so 'ner Situation wohl groß anderes tun? Sie verstehen? Na klar hab' ich ihm geglaubt.
    Autor: Was geschah anschließend?
    Zeuge: Ich tat, was er gesagt hatte. Als die Ampel auf Grün ging, fuhr ich in südlicher Richtung los. Ich fuhr genau mit der erlaubten Geschwindigkeit, damit wir die grüne Welle mitkriegten.
    Autor: An einem Sonntag gab's zu dieser Zeit wohl schwerlich viel Verkehr?
    Zeuge: Verkehr? 's gab überhaupt keinen Verkehr. Die Stadt gehörte uns ganz allein.
    Autor: Sprach er mit Ihnen, während Sie durch die Stadt fuhren?
    Zeuge: 'n einziges Mal. Das war ungefähr auf Höhe der sechziger Straßen. Er fragte mich nach meinem Namen, und den sagte ich ihm. Er fragte, ob ich verheiratet wär', und ich hab' ihm gesagt, ja, das wär' ich, und ich hätt' sechs Kinder, und eins wär' jetzt eben unterwegs. Ich hab' mir gedacht, ich tu' ihm vielleicht leid, und dann bringt er mich nicht um. Verstehen Sie?
    Autor: Mehr sprach er nicht?
    Zeuge: Nein, mehr hat er nicht geredet. Aber einmal, da stöhnte er so 'n bißchen. Ich sah ihn von der Seite an, nur 'ne Sekunde lang, und zwischen seinen Fingern lief Blut 'raus. Dort, wo er sich mit der linken Hand den Bauch hielt. Ich konnte sehen, wie das Blut zwischen seinen Fingern 'rauskam. Ich wußte, daß er schwer verletzt war, und er hat mir leid getan.
    Autor: Was geschah als nächstes?
    Zeuge: An der Siebenundfünfzigsten Straße befahl er mir, nach rechts abzubiegen und die Siebenundfünfzigste Straße langzufahren, immer nach Westen. Also hab' ich das getan.
    Autor: War seine Stimme sicher und fest?
    Zeuge: Sicher und fest? Na klar war die sicher und fest, 'n bißchen leise zwar vielleicht, aber sicher und fest. Und diese Kanone in meinen Rippen war ebenfalls sicher und fest. Also fuhren wir auf der Siebenundfünfzigsten Straße quer durch die Stadt. Als wir zur Neunten Avenue kamen, sagte er, ich sollt' nach links abbiegen und mal fürs erste stadtauswärts fahren. Also hab' ich das getan.
    Autor: Um welche Zeit war das?
    Zeuge: Welche Zeit? Ach, halb sechs, denk' ich mir. Ungefähr. Es wurde langsam hell.
    Autor: Was geschah als nächstes?
    Zeuge: Ich fuhr sehr, sehr vorsichtig, und ich paßte höllisch auf alle Ampeln und Verkehrszeichen auf. Als wir zur Vierundzwanzigsten Straße kamen, befahl er mir, stehenzubleiben.
    Autor: Auf welcher Seite?
    Zeuge: Auf der Westseite. Also rechts. Ich fuhr an den Randstein 'rüber. Der lag auf seiner Seite. Er machte die Tür auf, und dazu gebrauchte er seine rechte Hand - die Hand mit der Kanone.
    Autor: Und Sie kamen nicht auf den Gedanken, ihn in diesem Augenblick anzuspringen?
    Zeuge: Sind Sie wahnsinnig? Natürlich nicht. Er stieg aus und warf die Tür zu. Dann beugte er sich durchs Fenster zu mir rein: Er sagte: »Fahr nur immer weiter. Ich bleib' hier stehen und schau dir nach, damit ich genau weiß, daß du immer schön brav weiterfährst.«
    Autor: Und was taten Sie?
    Zeuge: Na, was glauben Sie wohl? Ich fuhr immer schön brav weiter. Ich fuhr weiter nach Süden, zur Sechzehnten Straße runter, und dann dacht' ich mir, er könnt' mich wohl nicht mehr sehen. Also hielt ich an und ging in 'ne Telephonzelle, die da an der Ecke auf dem Bürgersteig steht. Dort gab's so 'n Schild, wo draufsteht, daß man den Polizeinotruf, die Nummer neun-eins- eins, auch anrufen kann, ohne 'nen Pfennig einzuwerfen. Also hab' ich die Polypen angerufen, und als die sich meldeten, sagte ich ihnen, was passiert war. Die Polypen fragten mich nach meinem Namen und meiner Adresse, und das sagte ich ihnen auch. Sie trugen mir auf, dort zu bleiben, wo ich war, und gleich würden sie mit 'ner Funkstreife anrücken.
    Autor: Was war dann?
    Zeuge: Ich ging zu meinem Wagen zurück. Du setzt dich jetzt in den Wagen, dacht' ich mir, und versuchst dich erst mal zu beruhigen, bis die Polypen kommen. Ich war ganz zittrig, von den Socken… Sie verstehen? Ich wollt' mir wieder meine Zigarre anstecken - die hatt' ich ja während der ganzen Zeit nie zum Brennen gekriegt -, aber dann sah ich den Platz, wo er gesessen hatte.
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