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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Autoren: Residenz
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sie noch einmal eingehend durch. Dann packt er sie wieder in die Kartentasche, die er neben seinem rechten Fuß abstellt. Wie sehr würde er sich jetzt wünschen, mit seiner Frau sprechen zu können! Und wenn es nur für eine Viertelstunde wäre! Ihr gesunder Menschenverstand, ihr kluger Rat gehen ihm ab, er hat das Gefühl, mutterseelenallein in einer Nussschale auf einem unendlich großen, dunklen Ozean unterwegs zu sein. Innerlich verflucht er zum wiederholten Male seine Versetzung nach Persenbeug!
    Da er im Moment keinerlei Möglichkeit sieht, an Verpflegung zu kommen, packt er den Karabiner beim Lauf und verlässt das Zimmer Richtung Toilette, die sich im hinteren Teil des Gebäudes befindet. Die Kartentasche nimmt er sicherheitshalber mit. Dort gibt es ein kleines Waschbecken, und Winkler trinkt das lauwarme, leicht gelbstichige Wasser aus der hohlen Hand. Danach wäscht er sich noch das Gesicht und befeuchtet seine kurz geschorenen, weißgrauen Haare. Aus dem Toilettenspiegel mit den vielen blinden Flecken über dem Waschbecken blickt ihn ein rasch gealterter, erschöpfter Mann mit scharfen, nervösen Gesichtszügen an.
    Keiner seiner Leute ist bisher zurückgekommen. Weder Korporal Landler, den er weit über Gottsdorf hinaus bis nach Klein-Pöchlarn ausgeschickt hat, noch Korporal Soukop und die anderen, die er nach Hofamt Priel abkommandiert hat. Auf dem Rückweg in sein Büro entlädt Winkler den Karabiner und lädt ihn wieder durch. Das scharfe Klicken des Verschlusses lässt ihn kurz zusammenzucken.
    In seinem Dienstzimmer wartet niemand mehr auf ihn. Er ist so allein wie ein Pestkranker. Er weiß, dass er heute auf dem Posten übernachten wird und dass er auch ein oder zwei seiner Leute dazu vergattern muss. Es gilt, die Protokolle zu schützen und vor allem einen Anruf des Landrates ja nicht zu verpassen. Schließlich ist dieser Dr. Convall, den er nicht einmal persönlich kennt, die einzige Rückendeckung von oben, die er im Moment hat.
    Der Gerichtsakt, für den Revierinspektor Winkler Protokolle und Durchschläge dieser Protokolle anfertigt und den es natürlich jetzt, an diesem 3. Mai 1945, noch gar nicht gibt, wird zwischen August 1945 und dem Jahr 1963 zwischen verschiedenen Gerichten in Persenbeug, Ybbs, Krems und in Wien hin und her geschoben werden, fast so wie eine heiße Kartoffel, und es wird aus diesem Akt auch einiges verschwinden oder – wie es im österreichischen Amtsjargon so schön heißt – in Verstoß geraten. Da ein paar Tatortfotos, dort eine Namensliste oder irgendein anderes Dokument. Darunter auch die erste Seite der von Revierinspektor Winkler verfassten Niederschrift der Aussage des Josef Böcksteiner aus Hofamt Priel. Da der Gendarm seine Protokolle natürlich auf der ersten Seite datiert hat, wissen wir nicht, wann, an welchem Tag der Augenzeuge Böcksteiner im Gendarmerieposten am Persenbeuger Hauptplatz erschienen ist, um seine Beobachtungen, seine Wahrnehmungen protokollieren zu lassen. Es könnte der 3. Mai, aber auch der 4., der 5. oder der 6. Mai 1945 gewesen sein. Daher ist dieses Kapitel sozusagen ein Kapitel in Klammern, das wir an den späten Nachmittag oder frühen Abend des 3. Mai 1945 setzen, denn von der Dringlichkeit, seine Zeugenschaft sozusagen offiziell werden zu lassen, dürfte es dem Böcksteiner vielleicht ähnlich ergangen sein wie dem Zimmermann Karl Brandstetter. In unmittelbarer Nähe seines Hauses in der Rotte Lahnhof in Hofamt Priel lagen an diesem Morgen dutzende halbverbrannte Leichen, und da bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als mit der zuständigen Behörde in Kontakt zu treten, so unangenehm und vielleicht sogar gefährlich dies auch sein mag. Da die erste Seite des Protokolls mit dem Nationale fehlt, können wir auch nicht genau angeben, wer dieser Josef Böcksteiner eigentlich gewesen ist. Er war jedenfalls der Gastgeber der ominösen Kartenpartie am Abend des 2. Mai 1945, an der unter anderen der Kraftfahrer Ludwig Stadler und einige Volkssturmmänner teilnahmen. Einiges mehr über ihn verrät uns vielleicht auch seine Aussage, die Revierinspektor Winkler auf der erhalten gebliebenen, zweiten Seite des Protokolls folgendermaßen zusammengefasst hat: ...
in preussischer Mundart »Sie brauchen keine Angst zu haben, hier werden nur Lumpen verbrannt und geschieht Ihrem Hause nichts.« Ich fragte diesen Mann noch, warum hier geschossen wird, worauf mir dieser Mann, der uniformiert war »die SS schießt mit Platzpatronen« antwortete.
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